von Blonde Babe » Dienstag 19. Juli 2011, 20:48
Offener Brief
An
Prof. Dr. med. Ferdinand M. Gerlach
Präsident der DEGAM
c/o Institut für Allgemeinmedizin Haus 10 C/1. Stock
Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität
Theodor-Stern-Kai 7
60590 Frankfurt
Juli 2011
Sehr geehrter Herr Prof. Gerlach,
mit großer Sorge habe ich festgestellt, dass die überarbeitete Version der Leitlinie Müdigkeit erneut weit hinter dem aktuellen Stand der Wissenschaft zum Krankheitsbild ME/CFS
zurückbleibt.
Die Leitlinie geht nach wie vor davon aus, dass ME/CFS eine somatoforme Störung sei. Als Therapieempfehlungen werden dementsprechend ausschließlich kognitive Verhaltenstherapie und
Aufbautraining genannt und es wird behauptet, dass beides wirksame Therapieformen seien. Dies widerspricht sowohl den Erkenntnissen seriöser ME/CFS-Forscher als auch den Erfahrungen von ME/CFS-Patienten.
Erneut haben sich die Autoren der Leitlinie Müdigkeit fast ausschließlich an Studien von Psychiatern wie Simon Wessely, Peter White, Michael Sharpe, Kurt Kroenke, Peter Henningsen
etc. orientiert, deren Theorie des ME/CFS darin besteht, dass es durch falsche Krankheitsüberzeugungen und eine übermäßige Aufmerksamkeit gegenüber harmlose Körpersensationen und daraus folgender übermäßiger Schonhaltung und Dekonditionierung zustande käme.
Wie Ihnen mit Sicherheit bekannt ist, wird ME/CFS seit über 40 Jahren von der WHO als organisch-neurologische Erkrankung klassifiziert. In den aktuellen ICD-10 ist es unter G93.3
aufgelistet – und nicht, wie es o.g. Psychiater tun, unter psychiatrischen Erkrankungen wie Neurasthenie o.ä. mit der Klassifizierung F48.xx einsortiert. Warum basieren Sie die Leitlinien auf Theorien über das ME/CFS, die gegen die Klassifizierungsrichtlinien der WHO verstoßen?
Warum werden zu einer neuro-immunologischen Krankheit fast ausschließlich Psychiater und keine Immunologen, Neurologen, Endokrinologen und Infektionsmediziner zitiert, wo doch eine
stattliche Ansammlung von etwa 5.000 in Fachzeitschriften veröffentlichten Studien die charakteristischen immunologischen, neurologischen, endokrinologischen Anomalien und
zahlreiche Infektionen bei ME/CFS beschreiben? Es scheint, als ob die Autoren der Leitlinien keine einzige dieser Studien berücksichtigt hätten.
Auffallend ist außerdem, dass die meisten der zitierten Studien mehr als 10, teilweise 20 Jahre alt sind und aktuelle Studien in der Minderheit sind.
Zwar ist es erfreulich, dass die Kanadischen Konsenskriterien – die erste klinische Definition des ME/CFS – jetzt in die Leitlinie aufgenommen wurden. Aber sie wurden weder für das
diagnostische noch für das therapeutische Vorgehen der Leitlinie berücksichtigt. Eine derart einseitige Darstellung und Auswahl der wissenschaftlichen Literatur kann weder im
Sinne der Patienten noch der Ärzte sein.
Studien, die die Wirksamkeit eines Aufbautrainings bei ME/CFS zu belegen scheinen, sind bei näherer Betrachtung häufig gar nicht mit ME/CFS-Patienten durchgeführt worden, sondern mit Menschen mit unspezifischen Erschöpfungszuständen oder vorwiegend psychogenen Erschöpfungszuständen.
Patienten mit schwerem und mittelschwerem ME/CFS sind aufgrund ihrer Behinderungen gar nicht in der Lage, an solchen Studien teilzunehmen. Diese Patientengruppe ist dauerhaft
bettlägerig (oft über Jahre hinweg), ans Haus gefesselt und/oder auf einen Rollstuhl angewiesen.
Es versteht sich von selbst, dass diese Menschen an einer Studie, die körperliches Training von ihnen verlangt, nicht teilnehmen können. Sie sind nicht einmal in der Lage, die Zentren aufzusuchen, in denen diese Studien durchgeführt werden. Eine Studie, bei der die Mehrzahl der Patientengruppe unmöglich teilnehmen kann, kann von daher über dieses Krankheitsbild auch nur wenig oder gar nichts aussagen.
Es gibt zahlreiche Studien aus den verschiedensten Bereichen der medizinischen Forschung, die belegen, dass Aufbautraining die Krankheitsmechanismen des ME/CFS anheizt und zu einer
akuten Zustandsverschlechterung sowie einer Verschlechterung der langfristigen Prognose der Patienten führt. Es erscheint geradezu fahrlässig, dass Sie solche Studien nicht in der Leitlinie verarbeitet haben.
Ihre Therapieempfehlungen zu körperlichem Aufbautraining führen nachweislich zu einer Schädigung von ME/CFS-Patienten und sind von daher eine Verletzung der ärztlichen
Sorgfaltspflicht.
Abgesehen von den körperlichen Schäden geraten Patienten durch diese Ihre Empfehlung auch auf der sozialen und finanziellen Ebene in große Not. Sie werden von Rentenversicherern gezwungen,sich in psychosomatische Kliniken zu begeben. Andernfalls droht ihnen der Entzug der finanziellen Lebensgrundlage. Patienten, die sich in dieser existentiellen Notlage in eine psychosomatische Klinik begeben müssen, werden durch die hier verfolgten Therapieprogramme noch kränker, da sie die Kräfte eines ME/CFS-Patienten vollkommen übersteigen.
Ihre Leitlinie trägt auch dazu bei, dass Patienten in einem Krankenhaus die elementarsten Pflegemaßnahmen vorenthalten werden. Da in Deutschland ME/CFS noch immer als eine
harmlose psychische Befindlichkeitsstörung angesehen wird – auch aufgrund der von Ihnen verfassten Leitlinie! – werden schwerkranke, bettlägerige und teilweise gelähmte Patienten
gezwungen aufzustehen, z.B. um die Toilette aufzusuchen. Oftmals wird diesen Menschen, wenn sie alleine nicht mehr aufstehen können, der Gebrauch einer Bettpfanne verweigert. Die Menschen erhalten keine Hilfe beim Waschen oder beim Essen.
Ist Ihnen bewusst, welches enorme zusätzliche Leid Sie mit Ihren Empfehlungen bei diesen ohnehin schwerkranken Menschen verursachen?
Ich fordere Sie auf, den Entwurf der Leitlinie (Stand Juni 2011) nicht zu autorisieren und dafür Sorge zu tragen, dass
* die Leitlinie dem neuesten Stand der Wissenschaft entspricht,
* die wissenschaftliche Literatur zu ME/CFS insgesamt berücksichtigt wird und nicht einseitig ausschließlich psychiatrische Herangehensweisen zitiert werden, die zudem
äußerst fragwürdig sind,
* Studien, die die Schädlichkeit körperlichen Trainings bei ME/CFS belegen, in die Leitlinie mitaufgenommen werden,
* nicht quer durch das gesamte Dokument bei Fragen von Diagnose, Pathogenese und Behandlung immer wieder unspezifische „Müdigkeit“ vermengt wird mit dem eigenständigen Krankheitsbild ME/CFS,
* das eigenständige Krankheitsbild ME/CFS auch noch eine eigenständige Leitlinie erhält.
Mit freundlichen Grüßen