Sachbuch: Ware Patient

Sachbuch: Ware Patient

Beitragvon Kira » Dienstag 14. Juni 2011, 08:55

Rainer Fromm & Richard Rickelmann : Ware Patient
Gefälligkeiten für die Pharma-Industrie
Nach Schätzungen von Transparency Deutschland gehen dem Gesundheitswesen jährlich bis zu zwanzig Milliarden Euro durch Betrug und Korruption verloren. Ärzte sind dabei nicht unbeteiligt.
Von Michael Imhof

"Ware Patient" von Rainer Fromm und Richard Rickelmann, Eichborn Verlag
21. Oktober 2010 2010-10-21 16:09:27
Korruption und Vorteilsannahme unter den sogenannten Leistungserbringern im Gesundheitswesen sind ein seit Jahren bekanntes Ärgernis, das aber immer weiter um sich greift. Es scheint ähnlichen Mechanismen zu folgen wie die vor sich hin schwelende Müllkrise in Süditalien. Das vorliegende Buch ist in zwölf Kapitel gegliedert, wobei sich acht von ihnen mit den Auswüchsen des Pharmamarktes in Deutschland beschäftigen. In den restlichen Kapiteln geht es um korruptive Verhaltensmuster von Ärzten und um die Folgen der Privatisierung von Krankenhäusern für die Patienten. Abschließend wird der Graue Markt der Nahrungsergänzungsmittel und der nicht zugelassenen Arzneimittel unter die Lupe genommen. Die Autoren haben Ärzte, Wissenschaftler, Vertreter der Krankenkassen, Gesundheitsökonomen sowie betroffene Patienten interviewt.

Die Arzneimittelpreise in Deutschland liegen im Durchschnitt um dreißig Prozent höher als im europäischen Ausland, wie Peter Sawicki vom Institut für Qualitätssicherung und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) den Autoren im Jahre 2009 mitgeteilt hatte. Das war kurz vor seiner Demission gewesen. Zwischen 1997 und 2005 schnellten die Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversorgung (GKV) für Arzneimittel um fünfzig Prozent in die Höhe. Fast überall in der Welt werden die Pharmapreise staatlich festgelegt, nicht so in Deutschland, wo die Preise durch die Pharmaindustrie selbst bestimmt werden. Die Politik und die geschröpfte Gesellschaft scheinen ohnmächtig zu sein gegen das Preisdiktat der Konzerne hierzulande.

Nach Schätzungen von Transparency Deutschland sollen dem Gesundheitswesen jährlich bis zu 20 Milliarden Euro durch Betrug und Korruption verlorengehen. Geschildert werden in diesem Zusammenhang beispielsweise korrupte Beziehungen zwischen Ärzten und anderen Leistungserbringern im Gesundheitswesen, zum Beispiel zu den Sanitätshäusern. So sei es zu regelrechten „Kooperationsvereinbarungen“ zwischen Ärzten und Sanitätshäusern gekommen, mit denen die Patientenströme aus der Arztpraxis heraus in ganz bestimmte Sanitätshäuser gelenkt würden.

Der unkritische Umgang mit Arzneimitteln
Gegen begehrte Rezepte über Schuhzurichtungen, Schuheinlagen, Orthesen hätten die Ärzte am Umsatz teil - eine willkommene zusätzliche Einnahmequelle in Zeiten eines steigenden Kostendruckes. Hierbei handelt es sich um einen klaren Verstoß gegen Paragraph 34 der Musterberufsordnung (MBO) für die deutsche Ärzteschaft: „Ärztinnen und Ärzten ist es nicht gestattet, für die Verordnung von Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln oder Medizinprodukten eine Vergütung oder andere Vorteile für sich oder Dritte zu fordern.“


Deutschland sind fünfzigtausend Arzneimittel mit zwölftausend Wirkstoffen auf dem Markt, daneben existieren weitere zwölftausend nichtverschreibungspflichtige Arzneimittel. Ein Drittel der Versicherten nimmt täglich fünf bis acht Wirkstoffe ein, von den Fünfundsiebzig- bis Achtzigjährigen nehmen zwanzig Prozent neun bis zwölf Wirkstoffe ein und dreizehn Prozent von ihnen gar zwanzig solcher Wirkstoffe. Diese Polypharmazie stellt vor allem bei alten und pflegebedürftigen Patienten in Heimen ein großes Problem dar, nicht zuletzt im Hinblick auf die oft nicht absehbaren Nebenwirkungen. Der unkritische Umgang mit Arzneimitteln hat jährlich zwischen sechzehntausend und vierundzwanzigtausend Todesopfer zur Folge. Das sind drei- bis viermal mehr Tote, als der Straßenverkehr jährlich fordert. Die Hälfte dieser Todesfälle ist nach Expertenmeinung vermeidbar.

Die Leichtfertigkeit in der Verordnung von Arzneimitteln erschreckt. Eine ganze Gesellschaft wird medikalisiert, von der Geburt bis zum Tod, wie die Autoren in zutreffender Weise feststellen. Eine der Ursache für diese grassierende Polypharmazie dürfte im zunehmenden Spezialistentum der modernen Medizin liegen, wo der Spezialist ja oft organbezogen und eindimensional die Erkrankungen seines Spezialgebietes mit Medikamenten behandelt, ohne seinen Blick auf die Persönlichkeit des Patienten zu richten. Dies führt nicht selten zu einer Addition von Medikamenten, deren komplexes Zusammenwirken von keinem Arzt mehr übersehen werden kann.

Ein Problem in unserer alternden Gesellschaft stellt zudem das Problem der Multimorbidität alter Menschen dar. Hierbei dürfen die verschiedenen Krankheiten nicht isoliert betrachtet und behandelt werden, sondern immer nur in einer Zusammenschau all ihrer Erkrankungen und Symptome. Für viele solche alten multimorbiden Patienten wäre ein intensives Arzt-Patienten-Gespräch oft wichtiger als das beste Schmerzmedikament. Aber die Medizin scheint in Zeiten der Fallpauschalen und der Kostendämpfungsgesetze wenig Raum und wenig Zeit für Empathie zu lassen. Mangels Zeit und Personal ersetzt die Pille oft die menschliche Zuwendung. Beispiele aus Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen kennen wir zuhauf: Es ist eine chemische Gewaltanwendung, und es bleibt, wie man es auch betrachtet, ein Skandal.

Heuschrecken übernehmen das Gesundheitswesen
Deutschland im Privatisierungswahn, so titulieren die Autoren die fortschreitende Privatisierung von Krankenhäusern. Finanz-Heuschrecken übernähmen das Gesundheitssystem. Zu den Auswirkungen dieses Strukturwandels gehöre ein schlechterer Personalschlüssel von Ärzten, Schwestern und Pflegern zu Patienten. Gravierende Pflegedefizite seien die Folge. Die kürzere Verweildauer führe zu vorzeitigen Entlassungen der Patienten (“blutige Entlassung“). Von ökonomischen Vorteilen für die Gesellschaft durch die Privatisierung von Krankenhäusern könne keine Rede sein. Freilich ist zu bedenken, dass viele von den städtischen und kommunalen Krankenhäusern, die in private Hand übergegangen waren, vorher hoffnungslos verschuldet und sanierungsbedürftig gewesen waren. Es geht also vom Regen in die Traufe.

Den Leser erstaunt die Folgenlosigkeit der zusammengetragenen Befunde. Wie kann es sein, dass die altbekannten Kartelle im Gesundheitswesen nicht zu knacken sind? Hilflos steht man zumal vor den Auswüchsen des Pharmamarktes, der sich durch ein effizientes, aber höchst fragwürdiges Lobbyistentum immer wieder erfolgreich gegen staatliche Versuche der Regulierung und Reglementierung zu behaupten weiß. Das Buch gehört eigentlich in jedes Wartezimmer, weil es präzise beschreibt, wie die grassierende Selbstbedienungsmentalität zum Tode unseres Solidarsystems führen muss.

Buchtitel: Ware Patient
Buchautor: Fromm, Rainer

Text: F.A.Z.
"Wo der Mut keine Zunge hat, bleibt die Vernunft stumm."
(Jupp Müller, deutscher Schriftsteller)

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Streit um Arzneimittelpreise

Beitragvon Kira » Montag 15. Dezember 2014, 10:59

tagesspiegel.de
17.08.2014
von Rainer Woratschka

Streit um Arzneimittelpreise
20.000 Euro für ein Medikament

Im ersten Jahr nach der Zulassung kann die Pharmaindustrie jeden Preis verlangen. Die Kassen stöhnen.
700 Euro für eine Tablette? Das gibt es tatsächlich. Was auf der einen Seite ein Super-Geschäft ist für die Pharmaindustrie, ist auf der anderen Seite ein irrer Kostenblock für die Kassen und damit die Gemeinschaft der Versicherten. Kein Wunder, dass die ...

http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/s ... 44968.html
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Re: Sachbuch: Ware Patient

Beitragvon Kira » Freitag 26. Dezember 2014, 12:33

18.12.2014
dpa

Nur gut jedes zweite neue Medikament hat echten Mehrwert

Neue Arzneimittel erzeugen oft große Hoffnungen - bei Patienten auf Besserung ihrer Leiden, bei der Industrie auf Umsatz. Doch viele der Mittel wirken nicht besser als bereits eingeführte Präparate.

Fast jedes zweite neue Arzneimittel gegen schwere Krankheiten nutzt den Patienten nicht mehr als die gewohnten Medikamente. Offizielle Prüfungen der oft teuren Pharma-Neuerungen haben ergeben, dass in rund 45 Prozent der Fälle der neue Wirkstoff den gängigen Therapien nicht überlegen ist. Das zeigt eine neue ...

http://www.focus.de/gesundheit/diverses ... 55650.html
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