"Mittlerweile hat sich allerdings herausgestellt, dass Essstörungen auch eine organische Ursache haben können: nämlich ein aus dem Gleichgewicht geratenes Immunsystem, das bestimmte körpereigene Botenstoffe angreift. Hierauf deuten die Resultate einer Untersuchung hin, die ein schwedisch-estnisches Forscherteam unter der Leitung von Serguei Fetissov vom Karolinska Institut in Stockholm durchgeführt hat.
Schon seit längerem weiß man, dass Menschen, die unter Mager- und Ess-Brechsucht leiden, etwas Wesentliches miteinander gemeinsam haben: Eine bestimmte Gruppe von Gehirn-Botenstoffen, die Neuropeptide, ist bei ihnen nur in äußerst geringer Konzentration vorhanden. Eines dieser Neuropeptide - das Alpha-MSH - spielt offenbar eine Schlüsselrolle bei der Regulierung des Hungergefühls und des Körpergewichts. Andere dieser Neuropeptide sind an der Steuerung des sozialen Verhaltens und von Stressreaktionen beteiligt. Die Ursache dieses viel zu niedrigen Botenstoff-Spiegels war bisher unbekannt.
Doch jetzt ist ihr Fetissovs Team auf die Spur gekommen. Als die Wissenschaftler nämlich das Blut von zwölf Anorexie- und 42 Bulimie-Patientinnen untersuchten, stießen sie auf jede Menge Antikörper. Diese Antikörper attackieren, stören oder blockieren die Neuropeptide, in erster Linie aber das Alpha-MSH, und je mehr sie sich im Blut ansammeln, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass gravierende Essstörungen auftreten. Die Sache hat allerdings einen Haken. Antikörper, die gegen das Alpha-MSH gerichtet sind, sind auch bei weiblichen Testpersonen ohne Essstörungen nachweisbar. Laut Fetissov liegt das daran, dass die Antikörper eigentlich bestimmte Krankheitserreger wie Heliobacter oder das Grippe-Virus Influenza A bekämpfen sollen, aber diese nur schwer vom MSH unterscheiden können. Der Forscher vermutet deshalb, dass es nicht allein von der Zahl der Antikörper abhängen kann, ob es zu einer Essstörung kommt oder nicht. Möglicherweise werden sie erst dann gefährlich, wenn es ihnen gelingt, ins Gehirn einzudringen.
Das geschieht jedoch erst, wenn die Blut-Gehirn-Schranke durch ständigen Stress immer mehr durchlöchert wird. Damit schließt sich der Kreis. Denn dieser ständige Stress ist auch eine Folge des heute immer weiter um sich greifenden gesellschaftlichen Körper- und Schlankheitskults. Inzwischen leiden auch immer mehr männliche Jugendliche und Männer an Mager- und Ess-Brech-Sucht, und die Patienten werden immer jünger."
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