Wenn Ärzte krank machen

"Wenn Ärzte krank machen: Die absurden Folgen des Gesundheitswahns
Und wer davon am meisten profitiert
Eine Flut von Gesundheitschecks, neue Risikofaktoren, immer niedriger angesetzte Grenzwerte. Bald gilt jeder Gesunde als krank. Nicht zum Wohle der Menschen, aber im Sinne der Pharmaindustrie.
Von Bert Ehgartner
12.4.2010 21:06
Der Arzt liest die Zahlen vom Blutdruckgerät: „165 zu 100“ – und murmelt dazu „viel zu hoch!“. Für die 70-jährige Pensionistin Maria Klein* bedeutet dies, dass sie sich ab sofort wieder an eine neue Pille gewöhnen muss. Es ist nun bereits das zweite Blutdruckmedikament, das sie täglich einnehmen soll. Sie fragt den Arzt, wie lange sie das Mittel benötige. Und die Antwort lautet – nicht gerade im optimistischsten Tonfall: „Bis sich endlich etwas tut!“
Vor nicht allzu langer Zeit lautete die Faustregel beim Blutdruck noch „Lebensalter plus 100“. Da wäre Frau Klein mit ihrem Wert gut im Referenzbereich gelegen. Doch die Zeiten ändern sich. Die Grenzwerte purzeln generell in immer tiefere Regionen.
Nicht nur für ältere Menschen erscheint es zunehmend unmöglich, im „grünen Bereich“ zu bleiben. Im Lauf des Lebens summieren sich die Dauermedikamente wie Jahresringe. „Gesund ist nur, wer noch nicht ordentlich untersucht worden ist“ – nie war dieser Kalauer realitätsnäher. 65-Jährige haben im Schnitt heute drei chronische Krankheiten. Auch für die Jüngeren wird das Fangnetz immer dichter geknüpft, bis schließlich kaum noch jemand durch die Maschen schlüpft.
Wie dramatisch die Lage ist, zeigte kürzlich ein isländisch-norwegisches Forscherteam am Beispiel der Europäischen Leitlinien zur Behandlung des Bluthochdrucks. Diese sind seit 2007 offiziell in Kraft, wurden von ausgewählten Experten der europäischen Kardiologie- und Hypertonie-Gesellschaft erstellt, in zahlreichen Konferenzen diskutiert und abgestimmt. Man sollte also annehmen, dass die Konsequenzen ihrer Umsetzung in die tägliche ärztliche Praxis bekannt wären und zum Wohl und zur Gesundheit der Europäer beitragen.
Umso größer war die Überraschung, als die Wissenschafter die Leitlinien einfach einmal anwandten – und zwar auf Norwegen, eines der reichsten Länder der Welt mit bekannt gesunden und langlebigen Bewohnern. Für ihr Experiment verwendeten die Forscher ein repräsentatives Modell der norwegischen Bevölkerung, das aus den Gesundheitsdaten von mehr als 50.000 Personen gespeist wurde.
Das Ergebnis: Drei von vier Nordländern im Alter zwischen 20 und 89 Jahren erwiesen sich nach den strengen Richtlinien als dringend behandlungsbedürftig oder benötigten zumindest ein engmaschiges Netz regelmäßiger ärztlicher Kontrollen. Besonders marod zeigte sich die Altersgruppe der 50- bis 64-Jährigen, wo sogar 99 Prozent der Bevölkerung klinischer Aufmerksamkeit bedurften, um die weitere Entwicklung ihres Herz-Risiko-Profils zu überwachen und in eine günstigere Richtung zu dirigieren. Nun kamen neben dem Blutdruck auch noch andere Risikofaktoren ins Spiel: allen voran die Blutfette, der Blutzucker und das Übergewicht. Im Schnitt ergäben sich laut Studie für jeden Erwachsenen drei zusätzliche Arztbesuche pro Jahr.
Damit die Mediziner diesen Ansturm bewältigen könnten, müsste die Zahl der Ärzte – allein zur Umsetzung der Blutdruck-Leitlinie – mehr als verdoppelt werden. Rechnet man dazu noch die Kosten für die Unzahl an Laborbefunden, Verschreibungen und Folgetherapien in das Szenario mit ein, stünde das norwegische Gesundheitssystem mit einem Schlag am Rande des Ruins, warnen die Autoren der Studie – nicht ohne die Blutdruck- und Herzexperten gehörig zu rüffeln: „Unserer Ansicht nach kann eine derartig weitreichende Vorsorge-Maßnahme nur dann als wissenschaftsbasiert angesehen werden, wenn auch die Konsequenzen ihrer Umsetzung offen diskutiert und transparent gemacht werden.“
Verkrankung.
Nun scheint es kaum denkbar, dass die Urheber der EU-Leitlinien nicht wussten, dass weit mehr als die Hälfte der Europäer Werte hat, die über die als „normal“ definierte Spanne von 120–129 Millimeter Quecksilbersäule (mmHg) beim systolischen beziehungsweise 80 bis 84 mmHg beim diastolischen Blutdruck deutlich hinausgehen. War es also Absicht?"
http://www.profil.at/articles/1014/560/266158/wenn-aerzte-die-folgen-gesundheitswahns
Und wer davon am meisten profitiert
Eine Flut von Gesundheitschecks, neue Risikofaktoren, immer niedriger angesetzte Grenzwerte. Bald gilt jeder Gesunde als krank. Nicht zum Wohle der Menschen, aber im Sinne der Pharmaindustrie.
Von Bert Ehgartner
12.4.2010 21:06
Der Arzt liest die Zahlen vom Blutdruckgerät: „165 zu 100“ – und murmelt dazu „viel zu hoch!“. Für die 70-jährige Pensionistin Maria Klein* bedeutet dies, dass sie sich ab sofort wieder an eine neue Pille gewöhnen muss. Es ist nun bereits das zweite Blutdruckmedikament, das sie täglich einnehmen soll. Sie fragt den Arzt, wie lange sie das Mittel benötige. Und die Antwort lautet – nicht gerade im optimistischsten Tonfall: „Bis sich endlich etwas tut!“
Vor nicht allzu langer Zeit lautete die Faustregel beim Blutdruck noch „Lebensalter plus 100“. Da wäre Frau Klein mit ihrem Wert gut im Referenzbereich gelegen. Doch die Zeiten ändern sich. Die Grenzwerte purzeln generell in immer tiefere Regionen.
Nicht nur für ältere Menschen erscheint es zunehmend unmöglich, im „grünen Bereich“ zu bleiben. Im Lauf des Lebens summieren sich die Dauermedikamente wie Jahresringe. „Gesund ist nur, wer noch nicht ordentlich untersucht worden ist“ – nie war dieser Kalauer realitätsnäher. 65-Jährige haben im Schnitt heute drei chronische Krankheiten. Auch für die Jüngeren wird das Fangnetz immer dichter geknüpft, bis schließlich kaum noch jemand durch die Maschen schlüpft.
Wie dramatisch die Lage ist, zeigte kürzlich ein isländisch-norwegisches Forscherteam am Beispiel der Europäischen Leitlinien zur Behandlung des Bluthochdrucks. Diese sind seit 2007 offiziell in Kraft, wurden von ausgewählten Experten der europäischen Kardiologie- und Hypertonie-Gesellschaft erstellt, in zahlreichen Konferenzen diskutiert und abgestimmt. Man sollte also annehmen, dass die Konsequenzen ihrer Umsetzung in die tägliche ärztliche Praxis bekannt wären und zum Wohl und zur Gesundheit der Europäer beitragen.
Umso größer war die Überraschung, als die Wissenschafter die Leitlinien einfach einmal anwandten – und zwar auf Norwegen, eines der reichsten Länder der Welt mit bekannt gesunden und langlebigen Bewohnern. Für ihr Experiment verwendeten die Forscher ein repräsentatives Modell der norwegischen Bevölkerung, das aus den Gesundheitsdaten von mehr als 50.000 Personen gespeist wurde.
Das Ergebnis: Drei von vier Nordländern im Alter zwischen 20 und 89 Jahren erwiesen sich nach den strengen Richtlinien als dringend behandlungsbedürftig oder benötigten zumindest ein engmaschiges Netz regelmäßiger ärztlicher Kontrollen. Besonders marod zeigte sich die Altersgruppe der 50- bis 64-Jährigen, wo sogar 99 Prozent der Bevölkerung klinischer Aufmerksamkeit bedurften, um die weitere Entwicklung ihres Herz-Risiko-Profils zu überwachen und in eine günstigere Richtung zu dirigieren. Nun kamen neben dem Blutdruck auch noch andere Risikofaktoren ins Spiel: allen voran die Blutfette, der Blutzucker und das Übergewicht. Im Schnitt ergäben sich laut Studie für jeden Erwachsenen drei zusätzliche Arztbesuche pro Jahr.
Damit die Mediziner diesen Ansturm bewältigen könnten, müsste die Zahl der Ärzte – allein zur Umsetzung der Blutdruck-Leitlinie – mehr als verdoppelt werden. Rechnet man dazu noch die Kosten für die Unzahl an Laborbefunden, Verschreibungen und Folgetherapien in das Szenario mit ein, stünde das norwegische Gesundheitssystem mit einem Schlag am Rande des Ruins, warnen die Autoren der Studie – nicht ohne die Blutdruck- und Herzexperten gehörig zu rüffeln: „Unserer Ansicht nach kann eine derartig weitreichende Vorsorge-Maßnahme nur dann als wissenschaftsbasiert angesehen werden, wenn auch die Konsequenzen ihrer Umsetzung offen diskutiert und transparent gemacht werden.“
Verkrankung.
Nun scheint es kaum denkbar, dass die Urheber der EU-Leitlinien nicht wussten, dass weit mehr als die Hälfte der Europäer Werte hat, die über die als „normal“ definierte Spanne von 120–129 Millimeter Quecksilbersäule (mmHg) beim systolischen beziehungsweise 80 bis 84 mmHg beim diastolischen Blutdruck deutlich hinausgehen. War es also Absicht?"
http://www.profil.at/articles/1014/560/266158/wenn-aerzte-die-folgen-gesundheitswahns