Amt treibt Behinderte zur Verzweiflung

Amt treibt Behinderte zur Verzweiflung

Beitragvon mirijam » Freitag 30. Juli 2010, 11:52

Beim Versorgungsamt stapeln sich die Anträge auf Schwerbehinderung meterhoch und meterlang. Ins laufende Jahr wurden 23 070 unerledigte Anträge übernommen. Das teilt die Senatsverwaltung für Soziales nun dem CDU-Abgeordneten Matthias Brauner auf eine kleine Anfrage mit. Derzeit sind die etwa 100 Sachbearbeiter mit 7 700 Fällen im Rückstand. Antragsteller müssen im Schnitt neun bis elf Monate warten, um zu erfahren, welchen Grad der Behinderung sie haben. Beim ärztlichen Dienst, ebenfalls Teil des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (Lageso) betragen die Wartezeiten sogar bis zu einem Jahr. 11 500 Akten haben sich zur Begutachtung angesammelt. Betroffen sind jährlich 67 000 Berliner. Das Amt führt 558 000 Akten. Jeder sechste Berliner ist also behindert.

Die Misere im Versorgungsamt hat einen langen Vorlauf, wie die Abgeordnete Elke Breitenbach (Die Linke), Sprecherin für Behindertenpolitik, sagt. "Schon im Jahr 2004, zur Gesundheitsreform, hat ein großer Schwung chronisch kranker Menschen zusätzlich Anträge gestellt." Es bildete sich ein Überhang von 4000 unerledigten Vorgängen. Inzwischen sind 7700 Anträge offen. Breitenbach nennt drei Gründe: zu wenig Sachbearbeiter, Ärzte und Geld für Gutachter. "Den Sachbearbeitern könnten Mitarbeiter aus dem Stellenpool zeitlich befristet helfen", schlägt Breitenbach vor. Die Behörde hält dagegen, dass "nur ausgebildetes Personal Rückstände nachhaltig abbauen kann, das aber zurzeit nicht zur Verfügung steht".

Die Vorgänge beim ärztlichen Dienst erklärt Breitenbach wie folgt: "Die 20 fest angestellten Ärzte vergeben den Großteil der Gutachten zur Einschätzung einer Behinderung extern. Für die Mediziner ist eine Anfrage vom Lageso nicht lukrativ, weil andere Auftraggeber wie die Bundesanstalt für Arbeit oder die Versicherungen mehr zahlen." Ihre Folgerung: Das Land muss mehr Ärzte einstellen oder die Vergütung der Gutachten anheben. Die liegt bei 10,40 Euro - plus einem Euro Schreibgebühr.

Für die Betroffenen geht es um Geld - und um ihre Würde. "Wer noch im Arbeitsprozess steht, kann als anerkannt Schwerbehinderter auf die Bezuschussung seines Jobs durch die Hauptfürsorgestelle rechnen", erklärt Hannelore Rohde-Käsling, Mitglied im Landesbehindertenbeirat. Arbeitslose würden von der Bundesagentur für Arbeit gefördert. Dazu kommt eine Einstufung in die Pflegeversicherung. Bus- und U-Bahnfahrten werden billiger, Gehbehinderte können auf einen Fahrdienst oder Begleiter zurückgreifen.

Das ist die Hoffnung von Renate Schütze (72), die am 9. November 2006 einen Antrag gestellt hat. Doch der Bescheid, den sie sieben Monate später nach Prüfung ihrer Unterlagen erhält, spricht ihr keine Begleitung zu. "Ich habe Widerspruch eingelegt, ich bin inzwischen ein Pflegefall. Mir läuft die Zeit davon." Schneller arbeitet das Amt deswegen nicht: Ein Widerspruch wird chronologisch abgearbeitet wie ein Neuantrag. Margot Radecke, Besitzerin eines Behindertenausweises, schafft wegen entzündeter Nerven im Fuß den Weg zur U-Bahn selbst mit Begleiter nicht mehr, den das Amt ihr schon bewilligt hat. Sie zahlt aus eigener Tasche einen Taxifahrer. Am 5. Dezember 2006 hat die 81-Jährige einen Verschlimmerungsantrag gestellt, in der Hoffnung auf einen Zuschuss. "Das Amt hatte keinen Arzt zur Untersuchung frei." In diesem Monat wurde sie zu einem Allgemeinmediziner an der Müllerstraße geschickt. "Der hat aber nur meine Lunge abgehört. Also, atmen tue ich noch - auch wenn ich den Eindruck habe, dass der Behörde das nicht gefällt."

http://www.morgenpost.de/printarchiv/berlin/article225599/Amt_treibt_Behinderte_zur_Verzweiflung.html
mirijam
 

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