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Schmerzhafte Veranlagung

BeitragVerfasst: Freitag 12. November 2010, 10:38
von Juliane
Zitat Feuilleton FAZ

"Schmerzhafte Veranlagung

Wehleidigkeit hat einen Grund: Ein Gen ist schuld
Wer Schmerzen klaglos ertragen kann, muß deshalb noch kein Held sein.
Möglicherweise verdankt er diese bemerkenswerte Tugend nämlich nur einer
bestimmten Erbanlage. Forscher in den Vereinigten Staaten sind jedenfalls
auf ein Gen gestoßen, das die Schmerzempfindung stark beeinflußt. Je
nachdem, über welche Variante des Gens ein Mensch verfügt, fällt die
Reaktion auf schmerzhafte Reize stärker oder schwächer aus.
Die Forscher um Jon-Kar Zubieta von der University of Michigan in Ann Arbor
haben die Erbanlage für das Enzym Comt ins Visier genommen. Dieses Enzym ist
am Stoffwechsel von Neurotransmittern beteiligt, von Substanzen, die für die
Signalübertragung zwischen Nervenzellen unerläßlich sind. Das Enzym sorgt
zum Beispiel dafür, daß der Neurotransmitter Dopamin abgebaut wird, wenn er
seine Aufgabe als Signalübermittler erfüllt hat. Dopamin wird oft auch als
Glücksdroge des Gehirns bezeichnet, weil es an der Entstehung angenehmer
Gefühle beteiligt ist. Daneben übt es aber noch andere Funktionen aus, und
eine davon betrifft das Schmerzempfinden.
Das Gehirn verfügt über eigene Schmerzmittel, die Enkephaline und
Endorphine. Diese Substanzen lagern sich bestimmten Bindungsstellen von
Nervenzellen an und unterdrücken dadurch die Schmerzwahrnehmung. Wie
Tierversuche gezeigt haben, führt eine Aktivierung des Dopamin-Systems dazu,
daß die Konzentration der körpereigenen Schmerzmittel abnimmt. Für die
Forschergruppe um Zubieta stellte sich daher die Frage, ob die
Schmerzverarbeitung auch von der Aktivität des Enzyms Comt abhängt.
Schon länger ist bekannt, daß Comt beim Menschen in unterschiedlichen Formen
vorkommt. Das liegt an einer kleinen Abweichung im entsprechenden Gen. Diese
hat zur Folge, daß an einer bestimmten Stelle des Enzym-Moleküls ein
Aminosäure-Baustein durch einen anderen ersetzt wird. Anstelle von Valin
findet sich dort Methionin. Das Enzym büßt dadurch den größten Teil seiner
Wirksamkeit ein. Die Fähigkeit zum Abbau von Dopamin nimmt auf ein Drittel
bis ein Viertel ab.
Da der Mensch über zwei Comt-Gene verfügt - eines von der Mutter und eines
vom Vater - sind insgesamt drei genetische Kombinationen möglich. Zum einen
können beide Gene das mit Valin ausgestattete, aktive Enzym bilden. Zum
anderen kommt es vor, daß alle zwei Gene jene Abweichung aufweisen, die zu
der Methionin-Variante des Enzyms führt. Die dritte Möglichkeit besteht
darin, daß ein Gen für die aktive und das andere Gen für die weniger aktive
Form des Enzyms kodiert.
Wie die Forscher in der heutigen Ausgabe der Zeitschrift "Science" (Bd. 299,
S. 1240) berichten, besteht tatsächlich ein Zusammenhang zwischen der
Genausstattung und dem Schmerzempfinden. In die Tests wurden 29 Personen
einbezogen. Man injizierte ihnen kleine Mengen von Salzlösung in den
Kaumuskel des Kiefers. Das führte zu einem anhaltenden Schmerz. Ein
computergesteuertes Infusionssystem sorgte dafür, daß im weiteren Verlauf
des Experiments Salzlösung in einer Menge zugeführt wurde, durch die der
Schmerz gleichblieb. Jene Probanden, die aufgrund ihrer Erbanlage
ausschließlich die besonders aktive Variante von Comt bildeten, ertrugen
hierbei mehr von der Salzlösung als jene mit je einer Valin- und
Methionin-Variante. Am sensibelsten reagierten Probanden, die von beiden
Elternteilen die Methionin-Version des Gens geerbt hatten. Weil das
Comt-Enzym bei ihnen weniger wirksam ist, liegt Dopamin in höherer
Konzentration vor, was wiederum mit einer verringerten Menge von
körpereigenen Schmerzmitteln einhergeht.
Die unterschiedliche Reaktion auf schmerzhafte Reize spiegelt sich auch auf
molekularer Ebene im Gehirn. Man injizierte den Versuchspersonen eine
schwach radioaktive Substanz, die sich den Bindungsstellen für Endorphine
anlagert. Mit dem Verfahren der Positronen-Emissions-Tomographie ließ sich
dann feststellen, daß, abhängig von der jeweiligen Comt-Variante, das
körpereigene System der Schmerzbekämpfung unterschiedlich stark aktiviert
wurde. All jene Menschen, die ob ihrer Wehleidigkeit belächelt werden, haben
jetzt jedenfalls ein entwaffnendes Argument zur Hand: Es liegt eben am
Comt-Gen. "

Frankfurter Allgemeine Zeitung
Freitag, 21. Februar 2003, Nr. 44
Seite 38, Feuilleton