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Free the data! Verheimlichte Daten führen zu falscher Bewertung. Das Beispiel Reboxetin.
Veröffentlichte Arzneimittelstudien, die von der Industrie gesponsert werden, führen häufig zu einer Überschätzung des Nutzens und einer Unterschätzung der Schäden. Dies ist verschiedenen Manipulationsmethoden geschuldet, deren Anwendung durch industrielle Sponsoren in zahlreichen Fällen erwiesen ist. Wir berichten dazu in der Rubrik "Einflussnahme der Pharma-Industrie". Eine der Methoden besteht darin, Studien mit unerwünschten Ergebnissen nicht zu veröffentlichen, was zu einer verzerrten Bewertung führt, dem sog. Publikationsbias.
Ein aktuelles Beispiel wird in einer Studie dargelegt, die jetzt im British Medical Journal erschienen ist. Darin geht es um die Substanz Reboxetin, die unter den Markennamen Edronax und Solvex gegen Depression eingesetzt wird. Im Jahr 2009 wurden in Deutschland noch 13,3 Mio. Tagesdosen an gesetzlich Krankenversicherte verschrieben (Arzneimittelreport 2010, S. 815), was einem eher kleinen Anteil an der Gesamtverschreibung von Antidepressiva (1.580 Mio. Tagesdosen) ausmacht.
Im Jahr 2009 sollte das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) den Nutzen von Reboxetin und anderen Antidepressiva bewerten. Dabei wurde deutlich, dass der Hersteller Pfizer nicht alle durchgeführten Studien veröffentlicht hat. Pfizer weigerte sich anfangs, die nicht veröffentlichten Studien dem IQWiG zur Verfügung zu stellen, gab aber in der Folge aufgrund öffentlichen Drucks nach (wir berichteten).
Der Zugang zu den bislang unveröffentlichten Studien zu Reboxetin ermöglicht den Vergleich der Nutzenbewertung mit und ohne Einbezug der unveröffentlichten Studien. Insgesamt werteten die Wissenschaftler des IQWiG 13 Studien zur Akutbehandlung der Depression mit 4.098 Patienten aus. Acht dieser 13 Studien waren nicht veröffentlicht. Damit waren bislang die Daten von 3.033 Patienten nicht berücksichtigt. Pfizer hatte somit 74% der vorhandenen Daten zurückgehalten.
In den 13 Studien wurde die Wirkung von Reboxetin im Vergleich zu Plazebo bzw. zu anderen Antidepressiva untersucht. Das Ergebnis lautet, dass Reboxetin ineffektiv bezüglich der erwünschten depressionsmindernden Wirkung und somit zur Behandlung der Depression ungeeignet ist. Patienten, die Reboxetin einnahmen, gaben mehr unerwünschte Wirkungen an als Patienten, die ein anderes Antidepressivum oder Plazebo erhielten.
Die veröffentlichten Studien überschätzten die erwünschten Wirkungen im Vergleich zu Plazebo um 115%, im Vergleich zu anderen Antidepressiva um 23% und sie unterschätzten die unerwünschten Wirkungen.
Somit hat der Hersteller die Zulassungsbehörden, die Ärzte und die Patienten mit einem geschönten Bild dieses im Jahr 1997 zugelassenen Arzneimittels getäuscht.
Aus diesem Sachverhalt leiten verschiedene Kommentatoren eine Reihe von Forderungen ab, wie z.B. das Recht von Prüfinstitutionen (wie z.B. das IQWiG) auf Erhalt aller Daten und das Recht von den Herausgebern von Fachzeitschriften, in Zweifelsfällen Einblick in die Rohdaten einer Studie nehmen zu können.
Lesenswert ist eine aktuelle Meldung von Pfizer, in der es blauäugig heißt: "Auch dem IQWiG liegen alle verfügbaren und bekannten Studien zu Reboxetin vor. Nachdem das IQWiG zu dem Ergebnis gekommen war, dass weitere Daten für die Bewertung des Nutzens des Präparats erforderlich seien, hat Pfizer diese zur Verfügung gestellt." Das Pfizer die Herausgabe erst verweigert hat, wird hier dreist unterschlagen.
Eyding D, Lelgemann M, Grouven U, Härter M, Kromp M, Kaiser T, et al. Reboxetine for acute treatment of major depression: systematic review and meta-analysis of published and unpublished placebo and selective serotonin reuptake inhibitor controlled trials. BMJ 2010;341.
Volltext kostenlos.
Editorial der Herausgeberinnen des British Medical Journal:
Godlee F, Loder E. Missing clinical trial data: setting the record straight. BMJ 2010;341. Volltext kostenlos
Kommentar von zwei früheren Herausgebern des New England Journal of Medicine.
Steinbrook R, Kassirer JP. Data availability for industry sponsored trials: what should medical journals require? BMJ 2010;341. Volltext kostenlos
Kommentar
Gigerenzer G, Wegwarth O, Feufel M. Misleading communication of risk. BMJ 2010;341. Volltext kostenlos
David Klemperer, 15.10.10