- Ehemaliger Sozialrichter Jürgen Borchert kämpft für grundlegende Strukturveränderungen -
Siehe auch der Thread (Themenkette):
Sozialgericht: Hartz IV Sanktionen verfassungswidrig!
viewtopic.php?f=50&t=21401Siehe darin auch shadow`s Beitrag vom 28. Dezember 2015, 17:17 mit der Überschrift - Ex-Sozialrichter Borchert rechnet mit Sozialstaat ab -
viewtopic.php?f=50&t=21401#p12358807.02.2015
... Jürgen Borchert zählt zu den profiliertesten Sozialexperten Deutschlands und streitet seit über 35 Jahren für Reformen.
Der Ex-Richter erläutert in "Tacheles" seine Überzeugung, dass die deutsche Sozialpolitik zutiefst unsozial und ungerecht sei: im Steuersystem, bei den Sozialabgaben, in der Familienpolitik, bei der Rente und Hartz IV. ...
... Deutschlandradio Kultur: Herr Borchert, es gibt sicherlich viele, die Ihre grundsätzliche Kritik teilen. Es gibt aber auch andere Experten, die kommen zu gänzlich anderen Urteilen. Ich nenne mal das extremste Statement. Da wird vorgerechnet: Über 200 Milliarden Euro lasse sich der Staat Jahr für Jahr die Familienpolitik kosten, wenn man mal alle Leistungen zusammenrechne, heißt es da. – Soll also heißen, den Familien geht’s doch gut, was redet der Borchert da. – Was sagen Sie dazu?
Jürgen Borchert: Da möchte ich gerne nochmal eine ganze Stunde hier mit Ihnen drüber reden.
Deutschlandradio Kultur: Das geht leider nicht.
Jürgen Borchert: Nein, das ist wirklich ein abenteuerlicher wissenschaftlicher Müll, der uns da präsentiert wird.
Es fängt damit an, dass diese Forscher viele Hütchenspiele der Politik überhaupt nicht kapiert haben.
Wir haben zum Beispiel in der Rechnung elf Milliarden Euro an Beiträgen für Kindererziehung in die Rente drin. Diese Beiträge an Kindererziehung in die Rente werden aber nicht für die Rentenanrechnung verwendet. Das sind nur wenige Milliarden. Und sechs, sieben Milliarden aus diesem Paket fließen in die allgemeine Rentenfinanzierung. Sie werden außerdem finanziert, und jetzt kommen wir zum springenden Punkt, aus dem Aufkommen der Mehrwertsteuererhöhung von 1998. Mehrwertsteuern sind Verbrauchssteuern. Verbrauchssteuern belasten Verbrauch entsprechend. Das heißt, je kleiner das Einkommen, desto höher ist zwangsläufig der Verbrauch.
Das bedeutet, Familien haben auf jeder Einkommensstufe wegen ihres höheren Verbrauchs eine höhere Beteiligung an den Steuerlasten mit diesen Mehrwertsteuern und anderen, die auf dem Verbrauch lasten.
Da kommen wir zum zentralen Punkt bei diesen Studien: Die rechnen nur scheinbare Leistungen zusammen, da, wo der Staat sich in der Gloriole des Wohltäters sonnt.
Und sie fragen nicht bei diesen ganzen Leistungen, wo das viele schöne Geld eigentlich herkommt. Und es kommt zu 40 Prozent aus den Sozialbeiträgen. Es kommt zu 30 Prozent aus Verbrauchssteuern. Da sind die Familien überproportional beteiligt. Es stammt aus dem sonstigen Steueraufkommen.
Und bei den Lohnsteuern sind Familien ebenfalls zu unrecht überlastet.
Und wenn man das Ganze mal einbezieht, dann bleibt von der Rechnung überhaupt nichts übrig.
Die Politik hat die Verantwortung für den Arbeitsmarkt aufgegeben
Deutschlandradio Kultur: Herr Borchert, ein Aspekt der Familienpolitik ist auch das Thema Hartz IV. In Ihrem Buch „Sozialstaats-Dämmerung“ nennen Sie Hartz IV wörtlich „infam“. – Warum?
Jürgen Borchert: Weil man mit diesem Gesetz Opfer zu Tätern macht.
Es wird ja mit dem Fördern und Fordern der Eindruck erweckt, als seien die Langzeitarbeitslosen schlicht und einfach zu faul, als würden sie ihren Hintern nicht hochkriegen. Das ist nicht nur empirisch total widerlegt, sondern wir wissen mittlerweile aus einer Flut von Forschungen, dass nirgendwo so gestrampelt wird wie in dem Bereich Hartz IV.
Die Leute kämpfen ums Überleben und versuchen wieder Land unter die Füße zu kriegen. Die Ungeheuerlichkeit, die uns die Politik hier serviert mit diesem Fördern und Fordern, liegt vor allen Dingen in der Tatsache, dass man den seit 1967 geltenden Grundsatz, dass die Politik makroökonomisch, also im volkswirtschaftlichen Rahmen, für die Verhältnisse des Arbeitsmarktes verantwortlich ist, über Bord geschmissen hat, und zwar mit den Maastricht-Verträgen.
Mit den Maastricht-Verträgen hat man das abgestimmte Instrumentarium, den Arbeitsmarkt zu schützen vor außenwirtschaftlichen Entwicklungen, abmontiert.
Man hat sozusagen den Airbag vom nationalen Arbeitsmarkt abmontiert, weil man die Geld-, Währungs- und Zinshoheit und damit das wichtigste Instrument, verbunden sonst mit der Steuerpolitik, aus der Hand gegeben hat, nämlich an die EZB.
Und das ist eben das Instrumentarium gewesen, was die Politik zur Verfügung hatte. Sie hat es aus der Hand gegeben. ...
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