Das seltsame Jahr von Herrn Wirrnis und Psychiater

Das seltsame Jahr von Herrn Wirrnis und Psychiater

Beitragvon Gepaucker » Sonntag 6. September 2009, 17:49

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Psychiater Geistesblitz begrüßte den Patienten Herrn Wirrnis, der nach einem Verkehrsunfall in einem Bett der Unfallstadion lag.

„Herr Wirrnis, Sie wissen warum ich zu Ihnen komme?“
„Hören Sie bloß auf, ich bin schon aufgeregt genug. Nur weil ich gesagt habe, an meinem Unfall ist das kleine grüne Männchen schuld, meinten die Ärzte des Krankenhauses, ich sei verrückt.“
„Nun ja – Herr Wirrnis, dass ist aber auch wirklich eine etwas seltsame Erklärung, meinen Sie nicht auch?“
„Nein, Herr Geistesblitz, dass meine ich überhaupt nicht, oder denken Sie, ich erfinde seltsame Erklärungen, damit Sie für Ihre Existenzsicherung einen Auftrag erhalten?“
„Bitte werden Sie jetzt nicht persönlich Herr...“
„Was heißt, nicht persönlich, Sie stehen ja auch als Person vor mir oder sehe ich nur ein Phantom?“
„Natürlich nicht. Ich komme lieber auf unser Thema zurück: Wie war dass mit dem kleinen grüne Männchen?“
„Herr Geistesblitz, ich weiß nicht, was es da zu erzählen geben soll. Das kleine grüne Männchen war am Unfall schuld und damit basta.“
„ Haben Sie vielleicht zuviel utopische Romane gelesen oder sind Sie ein Fan von Marsgeschichten?“
„Wie kommen Sie denn darauf?
„Nun, weil Sie laufend von dem kleinen grüne Männchen erzählen. Wo haben Sie denn dieses Wesen gesehen?“
„Na wo wohl? Gewöhnlich auf der Straße!“
„Ach, gewöhnlich auf der Straße.“
„Ja genau. Nur diesmal nicht, wo der Unfall passierte. Da war es eben nicht da.“
Wie jetzt: Weil das kleine grüne Männchen nicht da war, ist der Unfall passiert?
„So ist es! Und das rote war auch nicht da.“
„Was meinen Sie mit rotes?“
„Na, dass rote Männchen.“
„Ach so, auf einmal fehlte auch noch ein rotes Männchen. Und woher kam das kleine rote Männchen? Etwa von der Venus? Sie wissen doch: Die Venusmännchen mögen den Winter überhaupt nicht... Oder fehlte vielleicht nicht auch noch ein violettes Männchen vom Merkur oder ein kariertes vom Jupiter?“
„Machen Sie sich nur lustig! Ich lass mich nicht prophezeien...“
„Provozieren, mein Lieber. Prophezeien kann man Sie sowieso nicht. Wer soll sich denn Sie ausdenken...“, lachte Geistesblitz.
„Spotten Sie, spotten Sie ruhig weiter! Jedenfalls fehlte nur das grüne und das rote Männchen.“
„Aha. Plötzlich so bescheiden Herr Wirrnis? Ich meine, Weihnachten ist ja so lange noch nicht vorbei. Sie könnten ja noch einen Wunsch nachträglich...“
„Also Herr Geistesblitz, Sie können auch den geduldigsten Patienten in den Wahnsinn treiben. Ich stand an der Straße und wollte Sie überqueren. Aber die Ampel war ausgefallen. Da ging ich gedankenversunken über die Strasse und auf einmal...“

Inzwischen waren einige Wochen vergangen, der Frühling ließ die Knospen platzen und Herr Wirrnis war endlich genesen. Zu Hause erfreute er sich daran, welche Fortschritte sein Sohn machte. Er hielt ihn sogar für hochbegabt. Doch ausgerechnet sein hochbegabter Sohn sollte einen Anteil haben, dass er wieder zum Patienten des Krankenhaus wurde.

Psychiater Geistesblitz begrüßte erstaunt Patienten Wirrnis, der in der Unfallstadion lag:
„Na Herr Wirrnis, Sie schon wieder hier? Und ein Veilchen haben Sie, als hätten Sie sonst was für eine Schlägerei hinter sich. Was war denn diesmal die Ursache?“
„Herr Geistesblitz, tun Sie doch nicht so. Sie wissen doch schon längst Bescheid, sonst wären Sie nicht zu mir gekommen.“
„Ich hätte es aber gern von Ihnen selbst...“
„Ach, von mir selbst. Wie das, glauben Sie Ihren Berichterstattern auf einmal nicht mehr?“
„Darum geht es doch nicht. Ich muss schon wissen, wie Sie es selbst sehen oder erlebt haben.“
„Das ist es ja Herr Geistesblitz. Es steht nicht die Frage, wie ich es gesehen habe, sondern wie ich es NICHT gesehen habe bzw. wie es mein Sohn nicht gesehen hat.“
„Aha, das klingt ja fast philosophisch. Also wer hat was nicht gesehen?“
„Mein Sohn hat es nicht gesehen, konnte er auch nicht, denn es stand nicht da.“
„Und Sie haben es gesehen?“
„Wie sollte ich, es stand ja nicht da!“
„Hm – und wenn es dagestanden hätte, dann hätten Sie es gesehen?“
„Nicht unbedingt.“
„Nicht unbedingt, obwohl es dagestanden hätte?“
„Herr Geistesblitz, das steht doch jetzt gar nicht zur Debatte.“
„Ich stelle nur fest, dass es eigentlich egal ist, ob es dastand oder nicht.“
„Nein, das ist nicht egal. Es stand aber nicht da, und darum geht es.“
„Wenn es doch aber egal gewesen wäre Herr...“
„...es war aber nicht egal, es ist passiert, weil es NICHT - NICHT - NICHT da stand Herr Geistesblitz!“
„Ist ja gut, deshalb brauchen Sie mich nicht gleich anzubrüllen. Es stand also wieder einmal etwas nicht da. Aber diesmal kein grünes oder rotes Männchen Herr Wirrnis oder?“
„Sehr scharfsinnig Herr Geistesblitz, wirklich. Aber ich will es Ihnen erklären: Also mein vierjähriger Sohn hat mich beobachtet, wie ich die Spraydose des Rasierschaums vor Gebrauch schüttelte. Er hat mich auch dabei beobachtet wie ich die Spraydose von Sprühsahne vor Gebrauch schüttelte. Als ich eine Flasche Fruchtsaft öffnen wollte, rief mein Sohn sogleich: ´Papa, vorher schütteln!´ Und er hatte Recht, das stand tatsächlich auf dem Flaschenetikett. Als ich das Fläschchen eines Medikaments öffnen wollte, wies er mich erneut darauf hin und er hatte wieder Recht. Wirklich ein kluges Kerlchen mein Sohn Herr Geistesblitz.“
„Schon möglich, aber das ist doch keine Erklärung für...“
„Ich bin auch noch nicht fertig. Eines Tages stand eine Flasche Sekt auf dem Tisch. Ich wollte Sie öffnen, aber der Korken ließ sich nicht lösen. Da wollte ich mir ihn ansehen und plötzlich sauste mir das Ding ...“
„...ins Auge, Herr Wirrnis, nicht wahr“
„Ja, aber mit einem Karacho, kann ich Ihnen sagen. Und wissen Sie warum?“
„Na, weil Sie so dämlich waren, den Korken auf sich zu richten.“
„Falsch! Absolut falsch Herr Geistesblitz. Mein Sohn kennt mittlerweile das Schriftbild des Hinweises ´Vor Gebrauch schütteln` und...“
„...aber das steht doch gar nicht auf der Sektflasche drauf her Wirrnis! Ist doch gut so oder?. Und Sie wollen mir die ganze Zeit erzählen, es sei passiert, weil es nicht drauf stand.“
„Herr Geistesblitz, mein Sohn hat aber geglaubt, dieser Hinweis sei nur vergessen worden und so hat er die Flasche in gutgemeinter Absicht vorher geschüttelt.“
„Na dann musste es ja so kommen Herr...“
„Nein! Wieder falsch Herr Geistesblitz. Auf der Flasche hätte klipp und klar stehen müssen: ´Vor Gebrauch NICHT schütteln!´ Und genau das stand nicht drauf!“
„Wozu auch... Kein normaler Mensch schüttelt eine Sektflasche vor...“ Geistesblitz sieht plötzlich nervös auf seine Armbanduhr.
Herr Geistesblitz, hören Sie mir überhaupt zu?“
„Mensch Wirrnis, es ist ja schon 15.00 Uhr. Da hatte ich einen wichtigen Termin.“
„Und warum haben Sie Ihn versäumt? Wissen Sie warum?“
„Weil Sie mich so lange aufgehalten haben mit Ihren NICHT-DRAUF-STEHEN Herr...“
„Nein Geistesblitz, weil Ihnen niemand gesagt hat: ´Der Termin ist nicht zu versäumen...´“
„Sie sind doch ein Id...“
„Wieso ich, wer hat denn einen Termin verpasst – ich oder Sie?“
„Scheren Sie sich zum...“
„Hurra ich bin entlassen...“

Das Auge von Herr Wirrnis heilte ohne Folgen ab. Der Sommer schwang sich zu seiner Höchstform auf und Herr Wirrnis hatte alle Voraussetzungen, um einen der schönsten Sommer des Jahrhunderts als normaler Bürger in einem normalen Zustand zu erleben. Aber wie das bei Herrn Wirrnis so ist, die Normalität hielt nie lange an. Und so landete Herr Wirrnis allsbald wieder wegen einer Verletzung im Krankenhaus.
Psychiater Geistesblitz begrüßte den Patienten wie üblich: „Na Herr Wirrnis - Sie wieder hier?“
„Das sehen Sie doch, oder brauchen Sie eine Brille?“
„Na na Herr Wirrnis, nicht gleich so grantig...“
„...nicht gleich so grantig. Ich möchte Sie mal sehen, wenn Ihnen ein Hund in den A... beißt.“
„Und ich wundere mich, warum Sie auf den Bauch liegen und das bei Ihrer Leibesfülle, tut das der Leber nicht weh? Ich meine so eine Leberquetschung ist ja auch nicht...“
„Jetzt werden Sie nicht unverschämt, meine Leber geht Sie gar nichts an. Und außerdem tut mir mein A... weh und nicht die Leber.“
„Warum hat Sie denn der Hund gerade dorthinein gebissen? Das ist nämlich sehr untypisch und der Grund, warum ich hier bin. Normaler weise wird man selten dorthin gebissen. Irgendetwas müssen Sie falsch gemacht haben. Laut einer internationalen Statistik für Hundebisse...“
„Herr Geistesblitz, Ihre Statistik ist mir so was von egal, verstehen Sie! Warum mich der Hund gerade dorthin gebissen hat, weiß ich nicht, ich habe ihn jedenfalls nicht darum gebeten. Und was soll ich falsch gemacht haben? Was hätte ich anders machen sollen, damit mich der Hund nicht dorthin beißt, sondern woanders hin? Und außerdem: Meinen Sie, ich wäre jetzt glücklicher, wenn er mich in den Arm gebissen hätte? Gibt es in Ihrer Statistik auch eine Untersuchung über den Glücksfaktor nach einem Hundebiss, also welches gebissene Körperteil macht den Gebissenen am glücklichsten? Mensch Geistesblitz – was sind Sie für ein dämlicher Psych... Ich weiß gar nicht, warum Sie Geistesblitz heißen. Mich interessiert nicht Ihre kranke Statistik, sondern warum der Hund mich überhaupt gebissen hat.“
„Das möchte ich ja gerade herausfinden.“
„Ach, dass möchten Sie herausfinden? Horch. Horch – ich habe heute meinen Glückstag... Natürlich darf ich Ihnen wieder erzählen, wie es dazu gekommen ist, nicht wahr?“
„Das wäre jedenfalls die einfachste Lösung. Es gäbe natürlich auch noch die Möglichkeit einer Befragung unter Hypnose oder unter Einfluss von Psychopharmaka... “
„...oder unter Elektroschocks, nicht wahr Herr Geistesblitz?“
„Na Herr Wirrnis, Sie wollen mich doch nicht zur Verwendung von unlauteren Methoden ermuntern?“
„Ich glaube so eine Ermunterung haben Sie gar nicht nötig.“
„Also nun reicht´s Wirrnis, wir wollen nicht übertreiben! Erzählen Sie nun endlich, wie es zu diesem Hundebiss gekommen ist!“
„Na wie wohl? Weil an der Tür nicht dagestanden hat, dass...“
„...natürlich Wirrnis, das hätte ich mir ja gleich denken können, es hat mal wieder etwas nicht dagestanden.“
„Wenn es nun mal so war Geistesblitz. Also wollen Sie es nun wissen oder nicht?“
Psychiater Geistesblitz, verdrehte die Augen: „Na erzählen Sie schon!“
„Also ich half meinen großen Sohn bei der Austragung von Werbematerial und musste dazu ein Grundstück betreten, welches von einem Hund bewacht wurde. Das wusste ich aber nicht, weil kein Schild am Tor darauf aufmerksam machte. Gewöhnlich steht ja immer drauf: ´Vorsicht bissiger Hund!´ oder ähnlich. Aber hier nichts, absolut nichts...“
„Na und? Es müssen doch nicht alle Hunde bissig sein Wirrnis.“
„Ach nee. Und woher soll ich das wissen, ob der Hund bissig ist oder nicht? Jedenfalls kam da so ein großer Neunfundländer angerannt. Das war ein Apparat kann ich Ihnen sagen, dass war mindestens ein Neunzigkiloländer aber nicht nur ein Neunfundländer.“
„Na übertreiben Sie nicht gleich Wirrnis.“
„Vielen Dank für Ihr Verständnis Geistesblitz. Also wirklich - na ja - was soll ich auch von Ihnen erwarten?“
Geistesblitz seufzt schwer: „Fahren Sie bitte fort! War der Hund aggressiv und so weiter.“
„Was heißt aggressiv? Der kam – wie schon gesagt angerannt und legte mir seine Pfoten auf die Schulter und fing an, mich abzulecken, sicher um zu testen, wo er mich am besten beißen kann. Jedenfalls hatte ich eine Mordsangst. Ich schrie wie am Spieß, rammte ihn mein Knie in den Bauch stieß ihn von mir und wollte mit einem Satz über den Zaun...“
„...fliehen, wobei der Hund aber schneller war und Sie in den A... biss.“
„Genauso war es.“
„Das kann doch nicht wahr sein. Wirrnis - ist es ein Wunder, dass der Hund Sie biss, wenn Sie so brutal auf ihn eintreten und ihn Schmerzen zufügen? Und dann noch die Flucht, wo er Sie natürlich dort hinbiss, wo es noch möglich war.“
„Für Sie ist das natürlich wieder alles ganz einfach und ich bin wieder selbst schuld.“
„Natürlich sind Sie selbst schuld. Neunfundländer sind gewöhnlich sehr friedliche Hunde und der Hund war garantiert nicht bissig. Sie hätten sich nur ruhig verhalten brauchen, er hätte Ihnen garantiert nichts getan Wirrnis.“
„Herr Geistesblitz verdrehen Sie bitte nicht die Tatsachen. Ich konnte nicht wissen, dass er nicht bissig ist. Es hätte klipp und klar ein Schild am Tor angebracht sein müssen, auf dem etwa steht: ´Keine Angst, der Hund beißt nicht! Verhalten Sie sich ruhig!´“
„Also Wirrnis, seit wann muss so ein Schild an einem Tor angebracht werden? Das ist doch lächerlich.“
„Ist es eben nicht. Ich kenne nämlich einen nichtbissigen Hund aus der Nachbarschaft. Den kann mein kleiner Sohn am Schwanz ziehen, auf ihn reiten oder über´s Maul streichen, da passiert nie was. Nein, das Ganze ist passiert, weil mich kein Schild informierte, dass der Hund nichtbissig ist, denn dadurch – das heißt auf Grund meiner Unkenntnis über den tatsächlichen Charakter dieses Hundes – geriet ich in Panik, wodurch reflektorisch mein Knie angezogen wurde und gegen den Bauch des Hundes prallte und...“
„...aha, so eine Art Pawlowscher Reflex also, für den Sie rein gar nichts können. Verstehe: Sie wurden unschuldig das Opfer einer Kette von sich zufällig treffenden unglücklichen Ereignissen...“
„...Sie brauchen gar nicht so sarkastisch zu werden Geistesblitz.“
„Also gut Wirrnis, dass war zwar nicht sarkastisch, aber denken Sie, was Sie wollen. Sie lassen sich sowieso nichts sagen.“

Zwei Tage später: Geistesblitz kommt wütend ins Krankenzimmer von Wirrnis gerannt.

„Wirrnis, Sie müssen doch verrückt sein! Sie sind schuld, dass der Hund von meinen Nachbar meinen Sohn gebissen hat!“
„Wie das?“
„Wir haben zu Hause über Ihren Fall gesprochen. Gestern ging mein Sohn zu den Hund von meinem Nachbar, der auch nicht bissig ist. Er zog ihn an den Schwanz, setzte sich auf ihn, um ihn zu reiten und strich ihn über das Maul. Da war es passiert: Er hatte einfach zugebissen...“
„...und wieso bin ich daran schuld?“
„Na Sie haben mir doch selbst erzählt, was Ihr Sohn mit dem Hund des Nachbarn alles anstellen kann, ohne gebissen zu werden.“
„Ja Geistesblitz, mein Sohn wurde halt das NICHTOPFER von einer Kette sich zufällig NICHT treffender unglücklicher Ereignisse...“
„...bitte lassen Sie Ihren Sarkasmus Wirrnis!“
„Aha, auf einmal ist das doch Sarkasmus, interessant interessant...“
„Warum haben Sie mir dieses Märchen mit dem Hund aus der Nachbarschaft aufgetischt?“
„Das ist kein Märchen Geistesblitz. Allerdings bezog ich mich nur auf den Hund meines Nachbarn. Was aber den Hund Ihres Nachbarn betrifft... Sehen Sie, da haben wir wieder so einen Fall: Es ist passiert, weil es nicht dastand!“
„Was stand nicht da Wirrnis?“
„Ihr Nachbar hätte ein Schild anbringen müssen, auf dem darauf hingewiesen wird, dass man diesen Hund nicht am Schwanz ziehen darf, nicht auf ihn reiten oder ihn über das Maul streichen soll...“
„Wiiiiiirnisssss....!!!!“

Herr Wirrnis musste einen Teil des schönsten Sommer des Jahrhunderts auf den Bauch oder Seite liegend zubringen. Die letzten Wochen dieser schönen Jahreszeit konnte Wirrnis danach noch mehr oder weniger genießen. Sobald er jedoch in der Stadt einen Hund erblickte, wechselte er sofort die Straßenseite und tat dabei so, als habe er in einem Schaufenster etwas sehr wichtiges entdeckt. Noch nie hatte Wirrnis so oft Schaufenster in seinem Leben betrachtet. Auch die Ampeln musterte Wirrnis viel intensiver als früher und Sektflaschen kamen bei ihm erst gar nicht mehr auf dem Tisch. Nun konnte die bunte Jahreszeit kommen und Wirrnis malte sich schon einen wunderbaren Herbst im Geiste aus. Es hätte wirklich ein Herbst zum Genießen werden können, wenn nicht – ja wenn sich Herr Wirrnis nicht wieder Gedanken über ein ganz normales Wort gemacht hätte – normale Gedanken, wie er meinte. Doch diese normalen Gedanken machten ihn erneut zum Krankenhauspatienten:

Psychiater Geistesblitz begrüßte Wirrnis, der nach seiner Verletzung wieder in der Unfallstadion lag.
„Na Herr Wirrnis, Sie wieder hier?“
„Nein Geistesblitz, ich bin nur eine virtuelle Erscheinung.“
„Ach, Sie haben sogar noch in diesem Zustand Humor, obwohl Sie aussehen, als hätte Sie jemand mit dem Holzhammer zwischen Haaransatz und Kinn gestreichelt.“
„Das liebe ich so an Ihnen Geistesblitz – Sie sind immer so mitfühlend.“
„Langsam habe ich den Eindruck, Sie fühlen sich hier wohler wie zu Hause. Regnet es bei Ihnen rein oder ist die Heizung defekt?“
„Muss ich darauf antworten? “
„Kann verstehen, dass Sie gereizt sind Wirrnis. Wie ich hörte, hatten Sie Probleme mit der Damenwahl auf dem Herbstball.“
„Was heißt Probleme? Ich war zum erstenmal in meinem Leben richtig tanzen. Habe mir diesbezüglich einiges aus Filmen gemerkt, was Tanzen betrifft. Aber das mit dieser Damenwahl... “
„Was war das Problem? Hat wieder etwas nicht dagestanden Wirrnis? “
„Was heißt dagestanden. Ich bemühte mich fortlaufend Damen zum Tanzen zu bewegen, aber es wollte nicht eine einzige Frau mit mir tanzen, diese blöden Kühe... “
„...na Wirrnis, zügeln Sie sich, wenn es blöde Kühe waren, warum wollten Sie dann mit ihnen tanzen? “
„Ist doch wahr, laufend wiesen sie mich ab. Aber dann wurde endlich ´Damenwahl´ ausgerufen. Das habe ich mir natürlich nicht zweimal sagen lassen. “
„Wieso Sie? Bei der Damenwahl haben Sie doch gar nichts zu tun, sondern zu warten, bis Sie von einer Dame aufgefordert werden. “
„Jetzt fangen Sie mit diesem Quatsch auch noch an. Damenwahl heißt doch, dass ich mir eine Dame auswählen kann.“
„Nein Wirrnis, das heißt es eben nicht. Sie werden von einer Dame ausgewählt. “
„Unsinn! “
„Es ist aber so Wirrnis und weil Sie das nicht begreifen wollen, bin ich jetzt bei Ihnen. “
„Herr Geistesblitz im nächsten Monat sind Bundestagswahlen. Wer wählt dann? “
„Na wir, das heißt die Stimmberechtigten der Bevölkerung, Wähler genannt. “
„Aha, gut so. Im nächsten Jahr sind Kommunalwahlen. Wer wählt dann “
„Na wieder wir, die Wähler also. “
„Und wenn Damenwahl ist, wer wählt dann? “
„Na wir Männer, äh – Quatsch Wirrnis, Sie bringen mich ganz durcheinander. “
„Ich bringe Sie durcheinander? “
„Na das haben Sie doch eben gemerkt. “
„Ich habe Sie nicht durcheinander gebracht, sondern in Wirklichkeit Ihre Gedanken geordnet, und zwar so, dass sie den Realitäten entsprechen. “
„Mensch Wirrnis, wo haben Sie das gelernt? Haben Sie sich zuviel mit Politik beschäftigt? “
„Geistesblitz, Sie werden wohl doch nicht abstreiten wollen, dass Damenwahl bedeutet, dass Männer sich eine Damen auswählen können. Bei der Bundestagswahl sucht sich doch der Bundestag auch nicht das gewünschte Volk oder? “
„Bei diesen Wahlen 2005 hätten das die Parteien sicher gerne getan, aber lassen wir das.
Ansonsten rede ich bei Ihnen wieder mal gegen eine Wand. Kommen wir auf den Vorfall zurück: Sie waren also der Auffassung, weil Damenwahl ausgerufen wurde, hätten Sie sich eine Dame auswählen können? “
„Genau, das bin ich immer noch! “
„Und wie ist es dann weitergegangen? “
„Na wie schon? Ich habe mir eine Dame – oh Geistesblitz, dass war eine scharfe Biene – ausgewählt, aber diese Undankbare wollte offenbar ungesetzlich meine Wahl einfach verbal-annullieren und schrie sogleich um Hilfe. “
„Und dann? Ich meine, da hätten Sie doch merken müssen, dass Sie falsch liegen... “
„Ich und falsch liegen Geistesblitz? Ich war der einzige, der den wahren Sinn der Damenwahl erkannt hatte! Und dann kamen so ne paar Kerle und schlugen auf mich grundlos ein. “
„Ja Wirrnis, weil Sie nicht den Sinn der Damenwahl kapiert haben. “
„Wenn ein Wort derart sinnentstellt verwendet wird, dann hätte zumindest auf der Einladung stehen müssen: „Achtung! Mit Damenwahl – aber nicht die Damen auswählen, sondern die Damen wählen!“ oder so sinngemäß. Alles ist nur deshalb passiert, weil nirgends so etwas dastand. “
„Ist schon klar Wirrnis, so ein Grund musste ja auch diesmal gefunden werden. Kann das schon nicht mehr hören. Machen Sie weiter so, können Sie gleich hier einziehen. Hier regnet es nicht rein, die Heizung geht...“
„So eine Unverschämtheit Geistesblitz!“
„Also dann bis morgen, Herr Wirrnis!“
Geistesblitz wollte sich ungerührt verabschieden und erhob sich schnell, um das Zimmer zu verlassen. Doch er kam nicht weit. Plötzlich rutschte er aus, seine Beine flogen wie bei einer Cancantänzerin nach oben und er fiel, ohne sich abstützen zu können mit voller Wucht auf sein Gesäß. Wütend, mit schmerzverzerrten Gesicht tobte Geistesblitz: „Verdammt, ich habe schon so oft gesagt, wenn der Boden frisch gewischt wurde, dann soll man auf die Rutschgefahr hinweisen.“
„Donnerwetter Geistesblitz, Sie wollen wirklich, dass so etwas dasteht? Kann es sein, dass Ihnen das eben passiert ist, weil etwas NICHT dastand? “
„Wirrnis! Ich könnte Sie jetzt...“
„Geistesblitz - irgendwie scheinen Sie den Sinn von den Dingen nicht zu verstehen, die nicht dastehen, sonst würde doch Ihnen, ausgerechnet Ihnen, so etwas nicht passieren... “
„Wirrrrrrrnis!!! “

Urheberrecht Gerhard Becker[/size]
Gepaucker
 

Das seltsame Jahr von Herrn Wirrnis und Psychiater

Beitragvon Clarissa » Sonntag 6. September 2009, 18:07

Danke Gerhard, selten so gelacht. the story is true voll aus dem leben gegriffen.
Und allen Leugnern zum Trotz, im DIMDI
ICD-10-GM Version 2018 - Stand Oktober 2017 ist MCS immer noch im Thesaurus unter
T 78.4 zu finden und wirklich nur dort und an keiner anderen Stelle!
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Das seltsame Jahr von Herrn Wirrnis und Psychiater

Beitragvon Gepaucker » Sonntag 6. September 2009, 19:04

Das freut mich sehr, wenn Du lachen konntest, Clarissa.
Lachen ist gesind...

Lieben Gruß

Gerhard
Gepaucker
 


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