Text des Beitrags
http://www.3sat.de/nano
Chemieindustrie bezeichnet Kranke als "Ökochonder"
Immer mehr Menschen klagen über Beschwerden durch Umweltgifte
Die Gefahr heute geht nach Expertenansicht weniger von möglichen Unfällen in Chemiewerken,
sondern vielmehr von der schleichenden Verseuchung unserer Alltagswelt durch toxische
Substanzen in Produkten aus. Bereits zehn Prozent der Bevölkerung leiden unter einer Multiplen
Chemikalien-Unverträglichkeit ( MCS ). Die chemische Industrie präsentiert sich gerne als saubere
Sache, unterdrückt dabei Forschungsergebnisse und bezeichnet lebensbedrohlich Erkrankte
gerne als "Chemiephobiker".
Viele schwer diagnostizierbaren Erkrankungen gehen auf Umweltgifte zurück. Im Interesse von
Marktpräsenz und Rendite wird mit der Gesundheit ganzer Bevölkerungsgruppen gespielt. Dr.
Tino Merz ist Sachverständiger für Umweltgifte und wird deshalb immer dann gerufen, wenn
Menschen über plötzliche Krankheitssymptome klagen. Nachdem sich der Chemiker und
Toxikologe durch meterdicke Akten, Messwerttabellen, Untersuchungsberichte und
Grundsatzurteile gearbeitet hat, stellt er fest, dass die Schule, die er gerade untersucht hat, VOC
vorbelastet ist.
VOC ist ein Überbegriff für flüchtige organische Substanzen, wie sie in Lösungsmitteln
vorkommen. Nachdem die Schule renoviert worden war, klagten Schüler und Lehrer über
entzündete Augen, Kopfschmerzen und Konzentrationsschwäche. Obwohl die Werte auch sieben
Monate nach der Renovierung noch messbar sind, wird ein Gutachter die Werte "relativieren“ und
raten, regelmäßig zu lüften. Doch der empfohlene drei bis vierfache Raumluftwechsel pro Stunde
scheint besonders im Winter völlig absurd.
Auch stellt sich Merz die Frage, warum diese Stoffe trotz ihrer Toxizität weiterhin produziert,
verkauft und selbst in öffentlichen Gebäuden verwendet werden dürfen. Die Zahl der Schulen mit
einem ähnlichen Problem schätzt der Chemiker auf etwa 5000. Die Vergiftung der Umwelt ging mit
der Industrialisierung einher. Erschreckend ist, dass die Luft in den meisten amerikanischen
Wohnungen schlechter ist, als in Los Angeles an einem Smogtag. Auch bei uns ist die Luft
getränkt mit Lösungsmitteln, Weichmachern, hormonähnlichen Substanzen, Rückständen von
Medikamenten im Trinkwasser und Schutzmitteln gegen Feuer und Frost.
Dieser ganze Chemiebaukasten wird von uns eingeatmet, gegessen und getrunken und lagert sich
in unserem Fettgewebe und den Organen ab. Parallel dazu steigt die Zahl der so genannten
Zivilisationskrankheiten wie Krebs, Allergien, Hautreizungen und Unfruchtbarkeit in bedrohlichem
Ausmaß an. Merz gehört dem wissenschaftlichen Beirat des Netzwerkes für MCS-Erkrankten an.
Von der Multiplen Chemikalienunverträglichkeit (MCS) sind rund zehn Prozent der Bevölkerung
betroffen. In nicht wenigen Fällen äußert sich das als Schlaflosigkeit, permanente Übelkeit bis hin
zu Geschwüren, Herzerkrankungen und neurologischen Schädigungen.
Meist dauert es aber Jahre, bis MCS erkannt wird und dem Kranken die richtige Diagnostik und
Behandlung widerfährt. Manche haben eine Odyssee von weit über 30 Ärzten und Kliniken,
einschließlich Psychiatrie, hinter sich, bevor ihnen geholfen werden kann. Nach wie vor existiert
eine gewaltige Lobbyvereinigung der chemischen Industrie, die versucht, seriöse Forschungen zu
verhindern. Dabei werden dann auch schon einmal Fachleute gekauft und Testergebnisse
manipuliert.
So wurden jahrelang die Symptome von MCS als psychosomatisch erklärt und der Begriff
"Chemiephobie" in die Fachwelt gestreut. Doch weltweite und vergleichende Studien haben in
den letzten Jahren den Verdacht der krankmachenden Chemie erhärten können. So wurde
vielfach belegt, dass die meisten MCS-Patienten aus Berufen stammten, in denen sie
überdurchschnittlich oft mit bestimmten chemischen Produkten in Berührung kamen.
1991 stellte der Umweltrat fest, dass "ein kausaler Zusammenhang zwischen MCS und
vielfältigen Umwelteinflüssen, die von der Mehrheit der Bevölkerung gut vertragen werden, nicht
wissenschaftlich belegt, jedoch auch nicht ausgeschlossen werden kann“. Das allerdings trifft
nach Ansicht von Fachleuten wie Dieter Eis nur sehr bedingt zu. Deshalb wurden nun Hunderte
von Probanden über die letzten Jahre beobachtet. Eine endgültige Aussage hat die Studie bisher
nicht erbracht. Obwohl die Untersuchungen, die nun schon seit Jahren in Deutschland ohne
abschließendes Ergebnis laufen, bereits in den 70er Jahren in den USA durchgeführt wurden,
werden die Ergebnisse im Rahmen der neuen Studie noch nicht einmal erwähnt.
Für den Umwelttoxikologen sieht das sehr nach einer Verzögerungstaktik aus. Auch unliebsame
Ergebnisse werden schnell ignoriert. Tino Merz selber war es vor sechs Jahren gelungen,
nachzuweisen, dass der Bayer Konzern bei den Labortests zu Pyrethroiden mit manipulierten
Zahlen gearbeitet hatte, um den Verkauf des Produktes nicht zu gefährden. Dieselben Leute, die
MSC-Kranke bis heute als "Ökochonder" bezeichnen.