"4.4 Kernaussagen und klinischer Ausblick
Neben den in vielen Arbeiten bereits reproduzierten Standardbefunden über die Regulation
von CRH und AVP nach akuter Stressexposition liefert vorliegende Arbeit folgende
Kernaussagen:
Bei C57/Bl6-Mäusen findet sich im Gegensatz zu Ratten kein Anstieg der CRHR1 mRNAExpression
im PVN nach Stressexposition. Darüber hinaus ist ein intakter CRHR1 im ZNS
für den physiologischen Anstieg der CRH mRNA in diesem hypothalamischen Kerngebiet
nicht notwendig. Ein Regelkreis im Sinne eines „ultra short positive feedback loop“ -wie bei
Ratten postuliert- lässt sich bei den untersuchten Mäusen folglich nicht nachweisen.
Sowohl CRHR1 als auch CRHR2 unterliegen im Hippocampus nach akuter
Stressexposition dynamischen Regulationsprozessen. Diese verhalten sich in mehrfacher
Hinsicht reziprok: Für CRHR1 findet sich ein rascher Abfall der mRNA-Expression in den
hippocampalen Regionen CA1 und CA3, für CRHR2 ein verzögerter Anstieg im DG.
Im Neocortex wird CRHR1 nach Stressexposition auf Transkriptionsebene stark
herunterreguliert. Dieser Effekt tritt rasch ein und hält über 24 Stunden an.
Der tonisch-inhibitorischen Einfluss auf die HPA-Achse ausübende MR wird im
Hippocampus von C57/Bl6-Mäusen stressabhängig ebenfalls dynamisch reguliert: Es findet
sich ein nachhaltiger Anstieg der mRNA-Expression nach Stressexposition. Die untersuchten
konditionalen Mausmutanten belegen, dass für diesen Regulationsmechanismus ein intakter
CRHR1 im ZNS vorhanden sein muss. Eine Interaktion zwischen CRHR1 und MR ist somit
sehr wahrscheinlich; ferner fällt auf, dass die Transkriptionsveränderungen nach
Stressexposition für beide Hormonrezeptoren im Hippocampus gegenläufig sind.
Diese Kernaussagen ergänzen als neue Befunde den bisherigen Kenntnisstand über die
Stresshormonregulation, insbesondere in Hinsicht auf Speziesunterschiede zwischen Ratte
und Maus und die Rolle von CRHR1 im ZNS. Sie erlauben es weiteren Arbeiten hier
anzuknüpfen und in neuen Versuchsansätzen die funktionelle Relevanz der einzelnen
Beobachtungen aufzuklären.
Je mehr über die molekularen Mechanismen der physiologischen Stresshormonregulation
bekannt sein wird, in desto größere Nähe wird die Möglichkeit zur Entwicklung wirksamer
Pharmaka für die Behandlung pathophysiologischer Zustände gelangen. Dieses Wissen dient
dann nicht nur zur genauen Definition von Zielorten für Pharmaka, sondern auch zur
Gewährleistung möglichst hoher Arzneimittelsicherheit.
Erste klinische Erfahrungen mit Medikamenten, die am Stresshormonsystem ansetzen,
liegen bereits vor: die Behandlung von Patienten, die an einer depressiven Störung litten, mit
dem CRHR1-Antagonisten R121919 lieferte viel versprechende Ergebnisse (Zobel et al.,
2000).
Nicht nur für die Vielzahl an betroffenen Patienten wäre die Entwicklung derartiger
Pharmaka zur Behandlung affektiver Störungen ein immenser Fortschritt, sondern auch für
die Psychiatrie selbst: Es würde sich bei Medikamenten, die an der Stresshormonregulation
ansetzen, um die ersten, aufgrund hypothesenbasierter Überlegungen entwickelten Pharmaka
zur Behandlung einer komplexen psychischen Erkrankung handeln. Dies wäre ein Meilenstein
für die Psychiatrie."
http://edoc.ub.uni-muenchen.de/3560/1/Greetfeld_Martin.pdf