Medikamenten-induzierte Polyneuropathien
Verfasst: Dienstag 31. März 2015, 10:54
Erkrankungen peripherer Nerven
Donnerstag, 27. September 2012, 17:30 - 18:00
Medikamenten-induzierte Polyneuropathien
F. Heidenreich (Hannover)
Trotz umfangreicher Diagnostik bleibt die Ursache einer Polyneuropathie (PNP) in vielen Fällen ungeklärt. Häufig geben die Anamnese oder das Vorliegen anderer Erkrankungen den Hinweis auf eine zeitliche Koinzidenz mit einer medikamentösen Therapie, so dass eine medikamentös-toxisch bedingte neuropathische Schädigung zu erwägen ist. Insbesondere konsiliarisch oder ambulant tätige Neurologen werden mit der Frage einer medikamentös verursachten Neuropathie konfrontiert. Medikamentös induzierte Neuropathien treten im klinischen Alltag insbesondere als Folge einer Chemotherapie auf und verschiedene Chemotherapeutika sind gut bekannt für ihre potentielle Neurotoxizität. Es gibt allerdings einige besondere durch Medikamente ausgelöste Neuropathien, die teilweise pathophysiologisch ungewöhnlich sind. Die einer toxischen Neuropathie zugrundeliegenden Mechanismen unterscheiden sich zunächst nicht von anderen toxisch neuropathischen Schädigungen z. B. durch Toxine in der chemischen Produktion. Im Vordergrund steht bei allen diesen PNP-Formen zunächst eine Schädigung sensibler Nerven meist als distal symmetrische Schädigung. Initial treten sensible strumpfförmige Missempfindungen der Beine, häufig mit begleitenden Schmerzen, später dann sensible Ausfälle auf. Im Verlauf kommt es dann zu einer motorischen und auch autonomen Beteiligung. Pathophysiologisch lassen sich eine reine axonale Schädigung, eine "Dying-back"- Neuropathie aber auch demyelinisierende Schädigungen unterscheiden und auch regenerative Prozesse treten auf. In einigen Fällen ist die Toxizität auch Folge einer sekundären Mangelsituation z.B von Vitaminen, insbesondere Vitamin B12 und Folsäure, der sich durch Substitution einfach vorbeugen lässt. So sind die Symptome nach Absetzen oder Dosisreduktion der Noxe häufig reversibel. Neben der neurotoxischen Genese werden in einzelnen Fällen auch sekundäre Immunprozesse diskutiert. Der Verlauf toxischer Neuropathien ist meist eher chronisch, selten kommt es zu subakut entstehenden Symptomen. Die frühzeitige Erkennung einer medikamentösen PNP-Auslösung ist daher prognostisch wichtig, in manchen Situationen wird aber eine neurotoxische Schädigung als Nebenwirkung z.B. einer Chemotherapie bewusst in Kauf genommen. Für einige Substanzen sind dabei Höchstdosierungen empfohlen worden, deren Überschreitung das Toxizitätsrisiko erhöht. Zur Erfassung des Schweregrads neurotoxischer Effekte werden mehrere ähnliche Klassifikationen onkologischer Fachgesellschaften, z. B. National Cancer Institute oder der WHO, meist mit 4 Kategorien (Grad I-IV) eingesetzt. Dabei entspricht Grad I überwiegend subjektiven Symptomen aber Verlust der Eigenreflexe, Grad II sensiblen Missempfindungen und Ausfällen mit auch Muskelschwäche ohne Beeinträchtigung der täglichen Aktivität. Neurologisch bedeutet dies eine PNP mit eher deutlichen Symptomen. Grad III ist dabei deutlicher, auch motorisch beeinträchtigend, Grad IV bedeutet schwere neuropathische Symptome und als Grad V wird gelegentlich ein tödlicher Ausgang beschrieben.
Es gibt einige Medikamentengruppen, die typischerweise eine PNP verursachen können. In erster Linie sind das Chemotherapeutika wie Platinpräparate, die Taxan-Präparate, verschiedene Antibiotika oder antiretrovirale Therapien bei der HIV-Infektion. Diese Gruppen werden nachfolgend kurz angesprochen und im Vortrag ausführlicher dargestellt, ebenso wie einige bsondere neurotoxische Neuropathieformen. In vielen Fällen stellt die medikamentöse Therapie nur einen Kofaktor dar und führt zu einer signifikanten Verschlechterung einer vorbestehenen anderen Nervenschädigung wie bei der durch Disulfiram verschlechterten äthyltoxischen PNP oder der Exacerbation einer hereditären PNP nach Chemotherapien. Neue medikamentös ausgelöste PNP-Formen werden immer wieder berichtet, bedürfen aber einer sorgfältigen epidemiologischen Überprüfung, um die Kausalität nachzuweisen.
Taxane: Die derzeit wohl klinisch bedeutsamste Rolle kommt den Präparaten Paclitaxel, Docetaxel und Carbitaxel aufgrund ihres häufigen Einsatzes insbesondere bei gynäkologischen Tumoren und dem kleinzelligen Bronchialcarcinom zu. Insbesondere Paclitaxel löst dosisabhängig eine progrediente überwiegend sensorische, häufig schmerzhafte Neuropathie aus, die durch Akkumulation und Aggeggation von Mikrotubuli mit Beeintächtigung axonaler Funktionen entsteht. In verschiedenen Versuchen wurden neuroprotektive Effekte von Acetyl-L-Carnitin, oder Vitamin E untersucht. Nach Beendigung der Therapie kann es zu einer meist inkompletten Regeneration kommen.
Vinca-Alkaloide: Vincristin, Vindesin und Vinblastin werden als Mitoseinhibitoren insbesondere bei Lymphomen und anderen hämatologischen Neoplasien eingesetzt. Sie lösen eine sensomotorische schmerzhafte Neuropathie auf, wobei im Verlauf rasch zunehmende Paresen auftreten können. Betroffen sind insbesondere auch myelinisierte Nerven. Eine PNP tritt bei etwa 50% der Patienten auf und limitiert die therapeutisch einsetzbare Dosis. Dabei werden die neurotoxischen Effekte ebenfalls durch eine Beeinträchtigung der Mikrotubuli-Funktion ausgelöst. Therapieversuche mit neuroprotektiven Ansätzen sind nicht erfolgversprechend verlaufen, durch Dosisreduktion und Absetzen kommt es zu einer Reversibilität der Symptome.
Platin-Analoga: Cisplatin, Carboplatin und Oxaplatin werden bei gynäkologischen und urologischen Tumorerkrankungen eingesetzt. Cisplatin verursacht eine sensorische PNP, mit Verlust der Proprioception durch Schädigung großer Fasern, während Paresen im Hintergrund stehen. Die Toxizität entsteht durch Akkumulation von Platin in den Dorsalganglien und Hinterstrangfasern, wobei sowohl Induktion von Apoptose als auch Blockade von Ionenkanälen als Mechanismen diskutiert werden. Der toxische Effekt ist dosisabhängig und nur teilweise reversibel.
Suramin: Diese antineoplastische Substanz, die nicht zugelassen ist, führt in über der Hälfte der behandelten Patienten zu einer sensomotorischen Neuropathie durch Interaktion mit dem Glykolipidstoffwechsel.
Weitere Chemotherapeutika: Alkylantien wie Procarbazin sind für eine neurotoxische Schädigung bekannt. Ebenfalls kann Cytosin-Arabinosid eine sensomotorische, aber selten auch eine rein demyelinisierende Neuropathie auslösen. Bortezomib wird bei therapierefraktären multiplen Myelomen eingesetzt und kann zu einer sensomotorischen axonalen Neuropathie führen. Dabei stellt sich häufig auch das Problem der Differentialdiagnose zur paraproteinämischen Neuropathie.
Thalidomid: Die Neurotoxizität von Thalidomid ist lange bekannt. Die Substanz wird bei Lepra und verschiedenen Immunerkrankungen zunehmend eingesetzt und kann eine vorwiegend sensible Neuropathie auslösen.
Antiretrovirale Substanzen: Didesoxynukleoside wie d4T (Stavudin), ddI (Didanosin) und ddC (Zalcitabin) werden bei der HIV-Infektion im Rahmen der hochaktiven antiretroviralen Therapie aufgrund ihrer Hemmung der Reversen Transkriptase eingesetzt. Sie führen insbesondere bei fortgeschrittenen Fällen zu einer axonalen Neuropathie. Nach Änderung der Therapieschemata bilden sich die Symptome teilweise zurück. Schwierig ist auch hier oft die Abgrenzung zu anderen HIV-assoziierten Neuropathien.
Antibiotika: Insbesondere Chloramphenicol, Metronidazol, Nitrofurantoin, die Tuberkulostatika Isoniazid und Ethambutol sind als neurotoxische Substanzen bekannt und müssen bei langfristigem Einsatz entsprechend beobachtet werden. Isoniazid erfordert die Gabe von Pyridoxin (Vitamin B6) als prophylaktische Maßnahme.
Andere medikamentös induzierte Neuropathien: Neuropathische Effekte sind bei zahlreichen, teilweise weit verbreitet benutzten Medikamenten beschrieben. Dabei sind die Assoziationen teilweise unklar, teilweise entstehen die Effekte durch Auswertung großer Studienunterlagen. Z. B. gilt dies für Allopurinol, Cyclosporin, Tacrolimus, Leflunomid, Lipidsenker wie Simvastatin, Protonenpumpenhemmer wie Omeprazol. Das für die Neurologie wichtige Phenytoin ist als neurotoxische Subsztanz gut bekannt. Nur teilweise sind die auslösenden Mechanismen dabei untersucht worden und durch den Wirkmechanismus erklärt. Eine Besonderheit stellt Amiodaron (Cordachin) dar, das eine Myelinschädigung auslösen kann.
Therapie: Die wesentliche therapeutische Option besteht in der Beendigung der Exposition bzw. Reduktion der Dosis der neurotoxischen Mediaktion. Versuche mit neuroprotektiven Substanzen sind unbefriedigend, nur wenn durch die Chemotherapie als Cofaktor ein Mangel z.B. von Vitaminen entsteht ist eine Prophylaxe sinnvoll. Schmerzhafte Missempfindungen lassen sich meist zumindest teilweise durch die bekannten Antidepressiva wie Amitryptilin, Duloxetin oder Antiepileptika wie Carbamazepin und seine Nachfolgesubstanzen, Gabapentin, Pregabalin oder Lamotrigin reduzieren, wobei auch für diese Mediakmente entsprechende Interaktionen zu beachten sind.
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