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"Schulen: Gefährliche Böden
Montag, 05. September 2011, 21.00 - 21.45 Uhr
Sogenannte flüchtige organische Verbindungen stellen in Schulen ein großes Problem dar. Es fehlt an einheitlichen Grenzwerten, Betroffene werden bei Krankheitssymptomen oft nicht ernst genommen, Behörden verweigern Auskünfte.
Eltern schicken ihre schulpflichtigen Kinder Tag für Tag in die Schule und vertrauen darauf, dass dort nichts passiert. Und auch Lehrer verbringen einen Großteil ihres Berufsalltags in einer Schule. Aber was, wenn dieses Vertrauen naiv ist und Lehrer und Schüler durch die Schule krank werden?
Die Ursache für viele Krankheitsbilder könnte ein Giftcocktail sein: Flüchtige organische Verbindungen, die entstehen können, wenn Schulen saniert werden. Und die Kinder trifft es dann besonders, wie der Toxikologe Dr. Tino Merz warnt: „Das Kurzzeitgedächtnis leidet ganz besonders und Kinder sind besonders betroffen, weil sie besonders empfindlich sind. Die Toxikologen sagen, es ist eine zu beachtende Risikogruppe.“
In der Heinrich-Heine-Realschule in Hagen zum Beispiel wurde nach einem Brand der Bodenbelag erneuert. Danach gab es Probleme. Schuldirektorin Birgit Kafol berichtet von Erbrechen und Taubheitsgefühlen bei Schülern und Lehrern.
Der Fußboden stammt von Nora-Systems. Die Firma ist Marktführer in Deutschland für Bodenbeläge aus Kautschuk und beliefert jedes Jahr etwa 1.000 Schulen. Aufgrund der Beschwerden hat die Stadt Hagen Messungen an der Schule vornehmen lassen. Das Ergebnis: Der Grenzwert für Styrol war überschritten. Styrol wird bei der Herstellung von Kunststoffen verwendet. Das Umweltamt Nordrhein-Westfalen beschreibt die Wirkung so: „Schleimhautreizungen an Augen, Nase und Lippen und Reizerscheinungen im oberen Atemtrakt sowie zentralnervöse Störungen.“
Die Stadt Hagen gab eine zweite Messung in Auftrag. Das Ergebnis: keine Belastung an der Schule. markt fragte mehrfach nach dem Messergebnis - vergeblich! Die Stadt Hagen teilte aber mit, dass die Firma, die den Boden verlegt hat, am Auftrag für die Messung beteiligt war und die Messung auch von der Firma bezahlt worden sei. Dennoch blieb man dabei: Es gebe keine Gesundheitsgefährdung an der Heinrich-Heine-Realschule. Doch Schüler und Lehrer klagten weiter über Beschwerden.
Nur ein Jahr später erneuerte Nora-Systems plötzlich den Boden auf eigene Kosten. Warum? Jürgen Karger, Produktmanager bei Nora-Systems, gab markt zunächst ein Interview. Doch das zog das Unternehmen zurück und schreibt: „In der aufgeheizten, stark emotionalisierten Situation in Hagen war es notwendig, schnell und lösungsorientiert zu handeln.“
Erstaunlich ist, dass es mit dem neuen Fußboden keine Gesundheitsbeschwerden mehr gibt. „Seitdem der alte Boden raus ist und wir diesen hellen, neuen Boden haben, geht es uns gut“, sagt Schulleiterin Kafol. Nora-Systems schreibt dazu: „In diesem Fall lag die Ursache unter unserem Boden, wo Baustoffe miteinander reagiert haben.“
Also doch ein Giftcocktail aus verschiedenen Materialien, der Schüler und Lehrer ein Jahr lang belastete? Erneut fragen wir nach den Messunterlagen, die uns Stadt und Unternehmen jedoch verweigern. Die Bezirksregierung in Arnsberg ist die Schulaufsichtsbehörde. Ihre Antwort: Man sei nicht zuständig, es gelte die kommunale Selbstverwaltung. Ebenfalls keine Auskunft erhalten wir vom Schulministerium, dem Innenministerium, dem Gesundheitsministerium und dem Umweltministerium des Landes.
Hagen ist kein Einzelfall. Der Redaktion liegen Unterlagen vor, wonach es in Schulen mehrerer Kommunen in Nordrhein-Westfalen Probleme aufgrund von Schadstoffen gibt, darunter in Bonn, Dortmund, Duisburg, Hagen, Hamm, Hemer, Köln, Löhne, Lemgo, Nideggen und Wermelskirchen. Auch wenn nicht in allen Fällen derselbe Bodenlieferant beteiligt ist, so gibt es doch zahlreiche Einrichtungen mit Problemen. Experten meinen, dass dort, wo viel saniert wurde, Giftcocktails auftreten könnten.
Und nicht nur Nordrhein-Westfalen ist betroffen. Die Martin-Luther-Schule in Rimbach im Odenwald wurde nach 2005 mehrfach saniert. Mehrere Schüler klagen hier über gesundheitliche Beschwerden. Gudrun Kaufmann, die Mutter einer Schülerin, wandte sich an die Schulleitung und sprach mit anderen Schülern und Lehrern. Sie fragte bei Behörden und Ämtern nach - zunächst ohne Erfolg. Im Jahr 2008 ordnete der zuständige Kreis Bergstraße schließlich eine Raumluftmessung an. Gudrun Kaufmann wollte die Messergebnisse sehen. „Ich musste richtig dafür kämpfen, dass ich Einblick in die Akten hatte und habe dann auch einen Termin bekommen. Aber das lief dann so ab, dass ich das nicht kopieren durfte, ich durfte es auch nicht fotografieren, ich durfte es nur abschreiben.“ Sie sagt, sie habe in der Akte von dem Schadstoff Naphthalin gelesen, ein Kohlenwasserstoff, der als Nervengift gilt. Das Umweltbundesamt schreibt zu Naphthalin: „Es kommt zu Bewusstseinsstörungen und Blutbildschäden (…) Für Kinder können die Folgen tödlich sein.“
Wir fragen den Kreis Bergstraße konkret nach diesem Schadstoff im Bodenbelag der Schule und erhalten eine Bestätigung, Zitat: „Daraufhin wurde umgehend eine Nachuntersuchung in diesem Raum durchgeführt.“ Diese sei jedoch unbedenklich gewesen, also „war nun kein weiterer Handlungsbedarf mehr gegeben“. Dazu meint der Toxikologe Dr. Tino Merz: „Es ist Handlungsbedarf gegeben, wenn Beschwerdebilder da sind, die auffällig sind, ob jetzt Grenzwerte unterschritten sind oder nicht. Das ist Gesetz. Und wie hier vorgegangen ist, ist ungesetzlich.“
markt bittet auch hier mehrfach um Einsicht in die Messunterlagen. Doch auch hier bekommen wir sie von den zuständigen Behörden nicht. Professor Arndt meint dazu: „In fast allen Bundesländern gibt es heute allgemeine Informationsfreiheitsgesetze. Schüler, Eltern und auch Lehrer haben aufgrund dieser Gesetze die Möglichkeit gegenüber allen öffentlichen Stellen, Informationen heraus zu verlangen. Diese Ansprüche sind auch vor den Verwaltungsgerichten einklagbar. Im vorliegenden Fall erscheinen mir auch die Erfolgsaussichten gar nicht so schlecht zu sein.“
Wie viele Schulen tatsächlich belastet sind, ist unklar. Die gesundheitlichen Risiken von Giftcocktails zu bewerten, ist schwierig. Dazu müssten Messergebnisse veröffentlicht werden."
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