"Dezember 2006
Leitlinien für die sozialmedizinische
Beurteilung von Menschen
mit psychischen Störungen
http://www.deutsche-rentenversicherung-bund.de/nn_10868/SharedDocs/de/Inhalt/Zielgruppen/01__sozialmedizin__forschung/01__sozialmedizin/dateianh_C3_A4nge/begutachtung/empfehlung__psychische__st_C3_B6rungen__2006__pdf,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/empfehlung_psychische_st%C3%83%C2%B6rungen_2006_pdf
Seite 47
3.6.7 Spezielle Syndrome: "Chronic Fatigue-Syndrom" (CFS) bzw.
"Multiple Chemical Sensitivity-Syndrom" (MCS)/
"Idiopathic Environmental Intolerances" (IEI)
Die unter den Begriffen „Chronic Fatigue-Syndrom“ (CFS) bzw. ”Multiple Chemical Sensitivity”
(MCS) zusammengefassten Beschwerdebilder haben wegen der problematischen Vermengung
von symptomatischer Ebene, Syndrom-Ebene und nosologischer Zuordnung bislang
keinen Eingang in die international gängigen Diagnoseklassifikationssysteme gefunden.
Der Begriff “Multiple Chemical Sensitivity” ist mittlerweile durch den Begriff der “Idiopathic
Environmental Intolerances” (IEI) ersetzt worden. Bei Betroffenen mit einem unspezifischen
umweltbezogenen Überempfindlichkeitssyndrom (= IEI) kommt es häufig zur Chronifizierung,
die sich nicht mit einem ausschließlich toxikologisch-allergologischen Ansatz erklären lässt.
Auch die 10. Revision der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebenen
”Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme”
(ICD-10) geht bei CFS bzw. MCS/IEI wegen der fehlenden wissenschaftlichen
Evidenz nicht von eigenständigen Krankheitsentitäten aus, zumal toxikologisch und immunologisch
keine die Symptomatik erklärenden Befunde ermittelt werden können.
In der anerkannten Fachliteratur herrscht hingegen Einigkeit darüber, dass MCS-/IEIBetroffene
gleichzeitig über deutlich erhöhte psychische Beeinträchtigungen wie Ängstlichkeit,
Depressivität oder diffuse, unterschiedlich ausgeprägte Körpersensationen berichten.
Die Frage, ob die Häufung aktueller psychischer Störungen für eine ”biogene” oder ”psychogene”
Ätiologie der MCS/IEI spricht, ist aus wissenschaftlicher Sicht noch nicht geklärt.
Von einer neuronalen Chemie-Hypothese ausgehend werden u. a. eine biologische Konditionierung
bei der Exposition gegenüber Gerüchen und Atemwegsirritantien sowie immunologisch-
allergische Mechanismen diskutiert. Die zugrunde liegende Überempfindlichkeit könnte
durch verschiedene Ursachen wie psychosozialen Stress hervorgerufen werden.
Psychogene Erklärungsansätze rücken die manifeste psychische Störung der Betroffenen
als Angsterkrankung, klinisch relevante Depression oder als somatoforme Störung in den
Vordergrund. Verschiedene Autoren beobachten auch, dass unter MCS/IEI klinische Fehldiagnosen
subsumiert werden, das heißt, dass es sich zum Teil um Frühformen psychischer
Erkrankungen handelt. Weiterhin wird ein ”belief system” als kulturgebundenes Erklärungsmodell
diskutiert, mit dessen Hilfe unspezifische Körperbeschwerden interpretiert werden
und das von Medien, Heilpraktikern, Ärzten und verschiedenen Institutionen etabliert und
unterstützt wird.
Auch beim ”Chronic Fatigue-Syndrom”, dessen klinisches Bild sich in vielen Bereichen mit
dem der ”Multiple Chemical Sensitivity” überschneidet, wird in der Fachliteratur auf die Ähnlichkeit
mit dem unter ”Neurasthenie” operationalisierten Krankheitsbild (ICD-10: F48.0) verwiesen.
Insgesamt betrachtet erscheint eine psychische Ätiologie sowohl bei CFS als auch bei
MCS/IEI in vielen Fällen wahrscheinlich. Die bisherigen klinischen Erfahrungen in universitären
Fachambulanzen und stationären Fachabteilungen lassen zumindest eine hohe psychische
Komorbidität bei dieser Störungsgruppe als gesichert erscheinen.
Im Rahmen der Sachaufklärung ist die komplexe Problematik der Betroffenen auf unterschiedlichen
Ebenen zu berücksichtigen. Dies gilt - in Anlehnung an die von der WHO herausgegebene
ICF - sowohl für den somatischen Bereich als auch für die psychischen und
sozialen Beeinträchtigungen.
In der qualifizierten fachärztlichen Begutachtung sind die körperlichen Befunde und die technisch-
apparativen Zusatzbefunde in sorgfältiger Form zu erheben und zu bewerten. Darüber
hinaus ist auch die psychische und soziale Situation in die Gesamtbeurteilung des einzelnen
Versicherten einzubeziehen.
Für die Beurteilung des qualitativen und quantitativen Leistungsvermögens spielt dabei weniger
die unmittelbare diagnostische oder ätiologische Zuordnung der Symptomatik eine Rolle,
als vielmehr das Ausmaß der individuellen Fähigkeits- und Funktionsstörungen in Hinblick
auf das Leistungsbild im Erwerbsleben.
Die Prognoseabschätzung darüber, ob eventuell bestehende Leistungseinbußen der Versicherten
als irreversibel bzw. chronisch anzusehen sind, kann daher nur im Einzelfall und
nicht allein auf der Grundlage einer umstrittenen diagnostischen Kategorie vorgenommen
werden.
Die Forderung nach einer Vermeidung von (hypothetischen) Trigger-Substanzen im Berufsleben
(Nocebo) als mögliche neurotoxische Einwirkung und eine daraus abgeleitete Frühberentung
ist wissenschaftlich - wie oben ausgeführt - nicht begründbar.
Hinsichtlich der medizinischen Rehabilitation in psychosomatisch - psychotherapeutischen
Facheinrichtungen ist anzumerken, dass die differenzielle Zuweisung von Versicherten zu
diesen Maßnahmen auf der Grundlage eines ganzheitlichen Krankheitsverständnisses erfolgt
und die hier angebotene Behandlung der Symptomatik dem gegenwärtig anerkannten
Wissensstand entspricht. Unter verhaltensanalytischen Aspekten kommt insbesondere der
Überwindung von Verstärkungs- und Vermeidungsreaktionen eine Bedeutung zu, wenn die
Betroffenen lernen sollen, soziale Fertigkeiten zu trainieren und die Änderung dysfunktionaler
Kognitionen und ”belief systems” einzuüben.
Nach Ausschöpfung aller rehabilitativen Optionen wird sich bei CFS- bzw. MCS- / IEIBetroffenen
eine Frühberentung im Einzelfall möglicherweise nicht vermeiden lassen. Dies
kann aus sozialmedizinischer Sicht allerdings nur auf der Grundlage einer umfassenden Gesamtbeurteilung
der qualitativen und quantitativen Leistungsfähigkeit erfolgen, in die die verschiedenen
Gesichtspunkte einschließlich der tatsächlich ermittelbaren Fähigkeitsstörungen
Eingang finden müssen.