LEITLINIEN ZUR REHABILITATIONSBEDÜRFTIGKEIT BEI
PSYCHISCHEN STÖRUNGEN
- für den Beratungsärztlichen Dienst der Deutschen Rentenversicherung Bund
Seite 26
"Für verschiedene Beschwerdebilder, die ebenso mit körperlichen wie mit psychischen
Symptomen einhergehen (z. B. das „Chronische Müdigkeitssyndrom“, das
„Sick Building Syndrom“, die „Fibromyalgie“ oder das „unspezifische umweltbezogene
Überempfindlichkeitssyndrom“), lassen sich bislang keine eindeutigen
ursächlichen Erklärungen finden, so dass eine korrekte diagnostische Zuordnung
schwer fällt. Sie werden im Kapitel 6 näher ausgeführt. Auch unfallreaktive
Beschwerdebilder sind teilweise schwer diagnostisch zuzuordnen, beispielsweise
Schleudertraumata, bei denen nach geringfügigeren körperlichen Einwirkungen z. B.
im Rahmen leichterer Auffahrunfälle nicht selten unverhältnismäßig stark ausgeprägte
Beschwerden geschildert werden, siehe hierzu auch „Leitlinien zur Rehabilitationsbedürftigkeit
neurologischer Erkrankungen“.
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6 Beschwerdebilder, die mit psychischen Symptomen einhergehen
können
6.1 Chronic Fatigue-Syndrom, Umweltbezogene Körperbeschwerden
Die unter den Begriffen Chronic Fatigue-Syndrom (CFS) bzw. Umweltbezogene
Körperbeschwerden wie z. B. Multiple Chemical Sensitivity-Syndrom (MCS), Idiopathic
Environmental Intolerances (IEI) oder Sick Building Syndrom (SBS)
zusammengefassten Beschwerdebilder haben wegen der problematischen
Vermengung von symptomatischer Ebene, Syndrom-Ebene und nosologischer Zuordnung
bislang keinen Eingang in die international gängigen Klassifikationssysteme
gefunden. Auch die ICD-10 geht bei CFS bzw. MCS/IEI/SBS wegen der fehlenden
wissenschaftlichen Evidenz nicht von eigenständigen Krankheitsentitäten aus, zumal
toxikologisch und immunologisch keine die Symptomatik erklärenden Befunde
vorliegen.
Beim Chronic Fatigue-Syndrom, dessen klinisches Bild sich in vielen Bereichen mit
dem der Multiple Chemical Sensitivity überschneidet, wird in der Fachliteratur auf die
Ähnlichkeit mit dem unter Neurasthenie operationalisierten Krankheitsbild (F48.0)
verwiesen (siehe Kapitel 5.1.7). Für das Chronic Fatigue-Syndrom wurden Kriterien
entwickelt, die zur Diagnosestellung herangezogen werden können:
1. Klinisch gesicherte, unerklärbare, persistierende oder rezidivierende
Erschöpfung, welche
• neu oder zeitlich bestimmbar eingetreten ist,
• nicht Folge einer anhaltenden Überlastung ist,
• sich nicht wesentlich durch Ruhe bessert und
• zu einer deutlichen Reduktion des früheren Niveaus der Aktivitäten
in Ausbildung/Beruf sowie im sozialen oder persönlichen
Bereich führt;
2. Vorhandensein von vier oder mehr der folgenden Symptome, die alle für
mindestens sechs aufeinanderfolgende Monate persistierend oder
rezidivierend nebeneinander bestanden haben müssen und der Erschöpfung
nicht vorausgegangen sein dürfen:
• selbstberichtete Einschränkungen des Kurzzeitgedächtnisses
oder der Konzentration, die schwer genug sind, eine deutliche
Reduktion des früheren Aktivitätsniveaus in Ausbildung/Beruf
sowie im sozialen oder persönlichen Bereich zu verursachen
• Halsschmerzen
• druckempfindliche Hals- und Achsellymphknoten
• Muskelschmerzen
• Kopfschmerzen
• Schmerzen mehrerer Gelenke ohne Schwellung und Rötung
• Kopfschmerzen eines neuen Typs, Musters oder Schweregrades
• keine Erholung im Schlaf
• Zustandsverschlechterung für mehr als 24 Stunden nach Anstrengungen.
Jede aktive medizinische Störung, die eine chronische Erschöpfung erklären könnte
wie z. B. Hypothyreose, Schlafapnoe, Narkolepsie, Medikamentennebenwirkungen,
fortgeschrittene HIV-Infektion, Malignom, nicht ausgeheilte Hepatitis muss ausgeschlossen
sein. Gleiches gilt für jede frühere oder aktuelle Diagnose einer
Depression mit psychotischen oder melancholischen Anteilen, Zyklothymie, Schizophrenie
und anderen paranoiden Störungen, Demenz, Essstörungen, Alkohol- oder
Drogenmissbrauch in den letzten beiden Jahren vor Beginn der chronischen
Erschöpfung und zu jedem Zeitpunkt danach sowie Adipositas per magna mit einem
BMI von 45 und mehr.
In der wissenschaftlich anerkannten Fachliteratur herrscht Einigkeit darüber, dass
sowohl CFS- als auch MCS-/IEI-/SBS-Betroffene überdurchschnittlich häufig
psychische Beeinträchtigungen wie Ängstlichkeit, Depressivität und diffuse,
unterschiedlich ausgeprägte Körpersensationen aufweisen. Eine psychische
Ätiologie sowohl bei CFS als auch bei MCS/IEI/SBS erscheint in vielen Fällen wahrscheinlich.
Zumindest lassen die bisherigen klinischen Erfahrungen in universitären
Fachambulanzen und stationären Fachabteilungen eine hohe psychische Komorbidität
bei dieser Patientengruppe als gesichert erscheinen.
Verschiedene Autoren stellen zudem fest, dass unter MCS/IEI klinische
Fehldiagnosen subsumiert werden, das heißt, dass bei einem Teil der Betroffenen
Frühformen psychischer Erkrankungen vorliegen. Insofern sind primär Erkrankungen
wie Angststörungen (F40-41), affektive Störungen (F32-34) und wahnhafte
Störungen (F20-25) differenzialdiagnostisch zu erwägen.
Als kulturgebundenes Erklärungsmodell wird weiterhin ein ”belief system” diskutiert,
mit dessen Hilfe unspezifische Körperbeschwerden individuell interpretiert werden
und das von Medien, Heilpraktikern, Ärzten und verschiedenen Institutionen etabliert
und unterstützt wird.
Von einer neuronalen Chemie-Hypothese ausgehend, werden bei den
umweltbezogenen Körperstörungen u. a. eine biologische Konditionierung bei der
Exposition gegenüber Gerüchen und Atemwegsirritantien sowie immunologischallergische
Mechanismen diskutiert. Die zugrunde liegende Überempfindlichkeit
könnte durch verschiedene Ursachen wie z. B. psychosozialen Stress hervorgerufen
werden. Allerdings lässt sich die häufig eintretende Chronifizierung und
Generalisierung nicht mit einem ausschließlich toxikologisch-allergologischen Ansatz
erklären.
Klinische, umweltmedizinische und laborchemische Untersuchungen erbringen in der
Regel auch keinen Nachweis einer Exposition, eines Kausalzusammenhangs
zwischen Exposition und Ausmaß der Beschwerden und/oder von organisch
begründbaren Erkrankungen, die die Beschwerden ausreichend erklären könnten. In
dieser Hinsicht und auch anhand des Bedürfnisses des Patienten, sich zur Abklärung
der Beschwerden wiederholt an Ärzte, Umweltambulanzen oder andere Behandler zu
wenden, bestehen Ähnlichkeiten zu den somatoformen Störungen (F45).
Psychopathologische Merkmale
Konzentrations- und Gedächtnisstörungen werden oft geklagt, die Stimmung kann
herabgesetzt sein. Die psychischen oder neuropsychologischen Symptome werden
von den Betroffenen trotz ausgeprägten Krankheitsgefühls jedoch nicht als eigenständige
psychische Problematik, sondern als Folge einer vermuteten neurotoxischen
oder anderen organischen Veränderung durch Umweltexposition
angesehen. Das Denken kann auf die organische Ursachenattribution eingeengt
sein. Ängste sind nicht selten.
Auswirkungen auf Aktivitäten und Teilhabe
Durch die Ängste hinsichtlich des weiteren Beschwerdeverlaufs und das daraus
resultierende Vermeidungsverhalten bis hin zum sozialen Rückzug kann die Teilhabe
am Berufs- und familiären Leben z. T. erheblich beeinträchtigt sein.
Prognose und Verlauf
Die Prognoseabschätzung darüber, ob eventuell bestehende Leistungseinbußen der
Versicherten als irreversibel bzw. chronisch anzusehen sind, kann nur im Einzelfall
und nicht allein auf der Grundlage einer umstrittenen diagnostischen Kategorie vorgenommen
werden.
Behandlungsmöglichkeiten
Eine gelegentliche kurzfristige Vermeidung der vermeintlich schädigenden Umwelteinflüsse
im Sinne der Angstminderung und Beziehungsstabilisierung kann im Einzelfall
sinnvoll sein. Die Forderung nach einer grundsätzlichen Vermeidung von
(hypothetischen) Trigger-Substanzen im Berufsleben (Nocebo) als mögliche neurotoxische
Einwirkung ist wissenschaftlich jedoch nicht begründbar. Die sogenannte
„Ausleitung“ von Quecksilber, das Vermeiden von Nahrungsmitteln und chemischen
Stoffen, der Umbau des Hauses oder ein Umzug sind mit erheblichen psychischen,
sozialen und finanziellen Folgen verbunden, bei nicht nachgewiesener Wirksamkeit
dieser Maßnahmen.
Mittel- und langfristig ist dem Patienten eine Re-Exposition i. S. einer behavioralen
Therapie zur Auseinandersetzung mit den scheinbar schädigenden Agenzien
(stufenweise Desensibilisierung bzw. Expositionstherapie) zu raten. Bei entsprechen
dem Schweregrad ist ein stationärer Psychotherapieversuch indiziert. Allerdings
stößt dessen Realisierung wegen des Umweltvermeidungsverhaltens und
mangelnder Akzeptanz durch die Betroffenen häufig auf Probleme.
Sozialmedizinische Bewertung
Aufgrund der Chronizität und der Ausprägung der psychosozialen Beeinträchtigungen
kann Rehabilitationsbedürftigkeit abgeleitet werden. Hinsichtlich der medizinischen
Rehabilitation in psychosomatisch/psychotherapeutischen Facheinrichtungen
ist anzumerken, dass die differenzielle Zuweisung von Versicherten zu
diesen Leistungen auf der Grundlage eines ganzheitlichen Krankheitsverständnisses
erfolgt und die hier angebotene Behandlung dem gegenwärtig anerkannten Wissensstand
entspricht. Unter verhaltensanalytischen Aspekten kommt insbesondere
der Überwindung von Verstärkungs- und Vermeidungsreaktionen eine Bedeutung zu,
wenn die Patienten lernen sollen, soziale Fertigkeiten zu trainieren und die Änderung
kognitiver Erwartungen und dysfunktionaler ”belief systems” einzuüben.
Dennoch wird sich bei einem Teil der Betroffenen auch nach Ausschöpfung aller
rehabilitativen Bemühungen eine Berentung wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
nicht vermeiden lassen. Dies kann aus sozialmedizinischer Sicht allerdings nur auf
der Grundlage einer umfassenden Gesamtbeurteilung der qualitativen und
quantitativen Leistungsfähigkeit erfolgen, in die die verschiedenen Gesichtspunkte
einschließlich der tatsächlich ermittelbaren Fähigkeitsstörungen Eingang finden
müssen."
Aktualisierungen sind in dreijährigen Abständen vorgesehen.
http://infomed.mds-ev.de/sindbad.nsf/51293108f720804cc12571e700442bde/f5274db2008f1559c1257110002c1fff/$FILE/RVBund-LL_Rehabed_psychische_st%C3%B6rungen_051001.pdf