Zitat
"Fallbeschreibung einer multiplen chemischen Sensitivität (MCS)
D. Wieners, X. Baur
Vorgestellt wird der Fall einer 31jährigen Bürogehilfin, die erstmals 1994 Störungen der Merk- und Leistungsfähigkeit, der Informationsaufnahme und der Konzentrationsfähigkeit entwickelte. Die beschriebenen Symptome lassen auf ein MCS schließen. Eine Anerkennung als Berufskrankheit nach der aktuellen Liste des Anhangs der BKV und §9 SGB VII ist nicht möglich.
Vorgeschichte
Die 31jährige Bürogehilfin entwickelte erstmals 1994 Störungen der Merk- und Leistungsfähigkeit, der Informationsaufnahme und der Konzentrationsfähigkeit. Häufiger verlegte sie Dinge; an ihrem Arbeitsplatz vergaß sie Handlungsabsichten, Erledigungen und musste sich vieles aufschreiben. Außerdem schweiften ihre Gedanken schnell ab. Bei Gesprächen verlor sie häufig den inhaltlichen Faden und bemerkte Wortfindungsstörungen. Ferner kam es zu Veränderungen der Stimmungslage mit depressiven Phasen und zu einer erhöhten Reizbarkeit.
Im Rahmen einer neurologisch-psychiatrischen Untersuchung im Februar 1998 berichtete die Patientin über ein pelziges Gefühl im Hals, rezidivierende Schwellungen der Zunge und Augenbindehäute, Muskelschmerzen, eine erhöhte Geruchsempfindlichkeit gegenüber Parfums, Waschmitteln und Zeitungen. Sie klagte über häufige Durchfälle und Schlafstörungen. In der Wohnung hatte sie sämtliche Möbel und die Teppiche mit einer Folie abgedeckt, um sich vor deren Ausdünstungen zu schützen. Als ein Mitarbeiter der Berufsgenossenschaft sie zu Hause besuchte, traf er sie mit einer Sauerstoffmaske an, die sie offensichtlich regelmäßig trug.
Die Patientin hatte bereits 26 Ärzte konsultiert und führt über alle Behandlungsdaten Buch. Eine Positronen-Emissions-Tomographie (PET; bildgebendes Verfahren unter Nutzung der bei Positronenverfall entstehenden Photonen, z.B. zur Untersuchung der Durchblutung und der Stoffwechselvorgänge in einzelnen Hirnabschnitten) Anfang 1998 zeigte angeblich eine "großflächige Störung der Glucoseverwertung frontal mit ausgeprägter Betonung orbital beidseits und inferior rechtsseitig" . Zuletzt wurden ärztlicherseits die psychiatrisch-neurologischen Diagnosen . Polyneuropathie, Myopathie und Ataxie mit erheblicher cerebraler Schädigung. gestellt.
Nach Ansicht der Patientin ist das Beschwerdebild auf eine Vergiftung zurückzuführen, die sie sich durch die berufliche Tätigkeit zugezogen habe.
Sie war von 1993 bis 1997 im Büro einer Fachhochschule tätig und schied infolge ihrer Beschwerden aus. Laut Aktenlage wurden an ihrem Arbeitsplatz, einem Neubau, zeitweilig Schädlingsbekämpfungmittel aus der Substanzgruppe der Pyrethroide eingesetzt.
Untersuchungsbefunde
Die Patientin war bei der Untersuchung klar, attent und geordnet.
Sie gab eine Geruchs-, Licht- und Lärmüberempfindlichkeit an, ferner Sehstörungen, Dröhnen im Kopf bei lauten Geräuschen, zeitweises Kribbeln und Juckreiz der Gesichtshaut. In der neurologischen Untersuchung vom Januar 1998 fand sich eine handschuh- und sockenförmige herabgesetzte Empfindlichkeit (Hypästhesien) im Sinne einer Polyneuropathie. Die Prüfung der Koordination erbrachte eine unruhige Mimik und Psychomotorik sowie eine deutliche Ataxie bei den Blindversuchen.
In weiteren Tests fanden sich Hinweise auf eine mögliche Störung der sprachlichen Informationsverarbeitung und eine cerebrale Insuffizienz bzw. erworbene cerebrale Schädigung der Intelligenzfunktion im Bereich visueller Wahrnehmung.
Beurteilung
Die von der Patientin geschilderten Beschwerden sprechen für das Vorliegen einer Multiple Chemical Sensitivity (MCS; heute bevorzugter Begriff: idiopathische Umwelt-Unverträglichkeit, (idiopathic environmental intolerance IEI)). Diese stellt eine erworbene Multiorgansymptomatik dar, welche durch Überempfindlichkeiten gegenüber zahlreichen Stoffgruppen (z.B. Lösungsmitteln, Pestiziden, Textilien, Nahrungsmittelzusätzen, Erdölprodukten) charakterisiert ist. Ein rezidivierender Verlauf mit einer Verschlimmerung unter bestimmten Auslösesituationen ist ein wesentliches Merkmal. Die Beschwerden treten bei niedrigsten Konzentrationen auf, die in der allgemeinen Bevölkerung keine Reaktionen hervorrufen, z. B Aufschlagen eines frisch gedruckten Kataloges oder Betreten einer Möbelabteilung. Häufig kommt es dabei zu einer dramatischen Symptomatik und einem hohen Leidensdruck (Altenkirch 1998). Typische Beschwerden sind Kopfschmerzen, Müdigkeit, allgemeine Schwäche, Konzentrationsstörungen, Reizungen der Schleimhäute des Auges und des Rachens sowie Verdauungsstörungen. Stets sind mehrere Organe oder Organsysteme betroffen. In der Regel lassen sich mit gängigen diagnostischen Verfahren keine pathologischen Befunde erheben. Die Pathogenese dieser Beschwerdebilder ist bislang weitgehend unklar und scheint heterogen zu sein (Wolf 1995; Bernstein 1996). Nach einer Auswertung von Wolf (1998) existieren derzeit keine Hinweise darauf, dass die Beschwerden auf toxische oder immunologische Prozesse zurückzuführen sind. Häufig scheinen psychische Faktoren beteiligt zu sein. Von einigen Autoren wird vermutet, dass früher stattgefundene hohe Schadstoffexpositionen, die mit Symptomen einhergingen, zu einer Konditionierung ähnlich dem Pawlow-Reflex führen können.
Differentialdiagnostisch ist an ein Sick Building Syndrom (SBS) zu denken. Es handelt sich dabei um eine reversible Befindlichkeitsstörung. Das SBS tritt vor allem in vollklimatisierten, künstlich belüfteten Gebäuden auf. Gruppendynamische Prozesse sind hierbei von besonderer Bedeutung. Nach internationaler Konvention liegt ein SBS vor, wenn mehr als 10 bis 20 % der Nutzer eines Gebäudes über ortsbezogene Beschwerden wie Atemwegsreizungen, Erschöpfungszustände, allgemeine Irritabilität und Ängstlichkeit klagen (Wiesmüller 1997). Die Beschwerden sind an die Anwesenheit in den Räumen gebunden und verschwinden am Wochenende (Altenkirch 1998). Beim SBS handelt es sich um einen Symptomkomplex aus zahlreichen Einzelfaktoren, die unterschiedlich ausgeprägt sein können. Häufig wird ein Zusammenhang mit flüchtigen organischen Verbindungen (zum Beispiel mit Formaldehyd oder Lösungsmitteln) hergestellt, ohne dass für diese Stoffgruppen Grenzwertüberschreitungen gefunden werden.
Unsere Patientin war im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit als Bürogehilfin keinen nennenswerten Belastungen ausgesetzt. Dies gilt auch für das zeitweilig eingesetzte Schädlingsbekämpfungsmittel aus der Stoffgruppe der "naturidentischen" Pyrethroide. Eine Pyrethroid-Vergiftung manifestiert sich unmittelbar nach Exposition durch Brennen und Juckreiz der Atemwegsschleim-häute, durch Haut- und Augenreizungen oder auch durch ein Taubheitsgefühl des Gesichtes. Daneben treten unspezifische Symptome wie Kopfschmerz, Schwindel, Übelkeit oder Schwäche auf. Diese Beschwerden zeigen sich stets innerhalb von wenigen Stunden bis zwei Tagen vollreversibel. Bisher konnte keine Speicherung von Pyrethroiden im Gehirn nachgewiesen werden. Die Frage einer chronischen Erkrankung durch eine langfristige Belastung in Innenräumen kann zur Zeit nicht endgültig beantwortet werden. Hierzu existieren unterschiedliche Ansichten; eindeutige Beweise liegen nicht vor (Appel et al. 1994).
Der Krankheitsverlauf mit fortbestehenden Beschwerden nach Beendigung der Exposition gegenüber Pyrethroiden am ehemaligen Arbeitsplatz als Bürogehilfin spricht im Fall unserer Patientin gegen Gesundheitsstörungen durch diese Einwirkungen, da bei einer Pyrethroidvergiftung die Symptome kurz nach Expositionsende wieder abklingen. Zusammenfassend stellten wir ein MCS fest. Folgende Befunde unserer Patientin sind hierfür typisch: Konzentrationsstörungen, Reizungen der Mund- und Augenschleimhäute, erhöhte Geruchsempfindlichkeit, Schlaf- und Verdauungsstörungen. Beschwerdeauslösend wirkten niedrige Konzentrationen verschie- denster Stoffgruppen in der Umwelt und am Arbeitsplatz. Pathologische Organbefunde ließen sich nicht feststellen. Nach den derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnissen besteht kein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Beschwerdebild der Patientin und der ausgeübten beruflichen Tätigkeit als Bürogehilfin. Eine Berufskrankheit im Sinne der aktuellen BKV-Liste liegt nicht vor. Auch unter der Annahme einer Multiple Chemical Sensitivity oder eines Sick Building Syndroms sind diese Leiden nicht wie eine Berufskrankheit einzustufen, da beide Erkrankungen nicht in der aktuellen Liste der Berufskrankheiten-Verordnung aufgeführt sind.
Fazit für die Praxis: Bei der Multiple Chemical Sensitivity (MCS) bzw. dem Sick Building Syndrom (SBS) handelt es sich um komplexe Krankheitsbilder mit in der Regel unbekannter Ätiologie und Pathogenese. Im Vordergrund stehen dabei Befindlichkeitsstörungen. Beschwerdeauslösend sind verschiedenste, niedrig konzentrierte chemische Einwirkungen sowohl im beruflichen als auch allgemeinem Umfeld. Der Leidensdruck der Patienten ist sehr hoch und führt zur Konsultation einer Vielzahl von Ärzten und nicht selten zur Berufsaufgabe. Ein ursächlicher Zusammenhang dieser Erkrankungen mit einer bestimmten berufsbezogenen oder außerberuflichen Einwirkung ist in der Regel nicht zu objektivieren.
Literatur:
Altenkirch A: Klinisches Spektrum der Neurotoxizität von organischen Lösungsmitteln. Nervenheilkunde 1998; 17: 362-368
Appel VE, Michalak H, Gericke S: Gesundheitliches Risiko durch Pyrethroide? - Daten über ihre Neurotoxozität, Toxikokinetik und Gesundheitsstörungen beim Menschen. Wissenschaft und Umwelt 1994; 2: 95-108
Bernstein DI: Multiple chemical sensitivity: state of the art symposium. The role of chemical allergens. Regul Toxicol Pharmacol 1996; 24: 28-31
McDonald JC, Armstrong B, Bénard J, Cherry NM, Farant JP: Sick-Building-Syndrome in a Canadian office complex. Archives of enviromental health 1993; 48: 298-304
Wiesmüller GA: Sick Building Syndrom. Allergologie 1997; 7: 347-353 o Wolf C: Umweltallergie - Multiple Chemical Sensitivity. Allergologie 1995; 10: 420-424
Wolf C: "Multiple chemical sensitivity syndrome" . Schweiz Med Wochenschr 1998; 128: 1217-22 "
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