von Dundee » Dienstag 15. Mai 2007, 19:16
TILT - Besser mal nicht...
TILT!
Auf der Suche nach der Bedeutung eines verbreiteten Wortes
Von Thierry Elsen
Stellen Sie sich folgende Situation vor. In einer allgemeinen Diskussion über so genannte Jugend- und Szenesprachen wird selbige von einem Teilnehmer durch das schöne Beispiel "Tilt" weiter angeregt. KennerInnen klassifizierten den Begriff nach dem "Ist-eh-klar-Prinzip" sofort und ohne zu zögern. Assoziationen zu einem Spielgerät namens Flipper oder zu englisch Pinball werden evoziert und schnell ist der Konsens hergestellt, dass die vier magischen Buchstaben immer dann auftauchen, um einen zu unsanftem Umgang mit der Maschine, in Form von Rempeln und Stoßen, zu sanktionieren, in dem alle Funktionen blockiert werden. Auf der Anzeigetafel erscheint dann in grellen Lettern: "Tilt". Ein "Rien ne va plus" der anderen Art. Nichts geht mehr. Und doch kann dies nicht alles sein.
Etappe 1: Die Wörterbücher
Die nicht zufriedenstellende Diskussion um den Begriff "Tilt" ist Anlass genug, sich ein wenig mit diesem Begriff auseinander zu setzen. Ein erster Zugang besteht für mich darin, mich in diversen Wörterbüchern umzusehen, um eine mehr oder weniger verbindliche Definition des Begriffes zu erhalten. In der Folge nun das Protokoll dieser kleinen Reise durch die Wörterbücher der Fachbibliothek für Germanistik der Universität Wien. Ausführliche Bibliographie der konsultierten Werke am Ende dieses Beitrags:
Meine erste Aufmerksamkeit galt dem "Duden-Herkunftswörterbuch" in seiner zweiten Auflage aus dem Jahre 1989. Resultat: Nichts. Ein ähnliches Ergebnis ist für das "Duden-Fremdwörterbuch" zu veranschlagen. Gleiches gilt für das "Wörterbuch für Abkürzungen".
Ebenfalls ein Produkt aus dem Hause Duden. Aber auch die Wörterbücher des Hauses "Walter de Gruyter" sollten keine weiterführenden Erkenntnisse bringen. Ob "Tilt" wohl in einem "populären Lexikon" mit dem wunderbaren Titel "Modern Talking auf deutsch" zu finden ist? Fehlanzeige. Vielleicht sollte ich diesen Titel als latenten Hinweis verstehen und im sehr populären Sangesrepertorie der gleichnamigen deutschen Band von Dieter Bohlen suchen.
Weitere Etappen dieser kleinen lexikalischen Reise: Sebastian Loskant: "Das neue Trendlexikon. Das Buch der neuen Wörter" und Hartwig Lodige: "Ketchup, Jeans und Haribo. Die letzten Rätsel unser Sprache". Das Fehlen des Begriffes Tilt in diesen beiden Werken lässt den Schluss zu, dass Tilt weder ein neues Trendwort ist, noch ein letztes Rätsel der deutschen Sprache aufgibt. Auf der lexikalischen Suche nach dem verlorenen Wort sollte ich schlussendlich doch von einem gewissen Erfolg belohnt werden.
Im "Duden-Szenewörterbuch", herausgegeben von Peter Wippermann in Kooperation mit dem Trendbüro in Hamburg findet sich unter dem Wortfeld "Ausgehen, Abgehen, Abfeiern" folgender Eintrag.
"kreisen: Je nach Kondition und Erfahrung des Users bleibt die Reaktion auf eine Droge unberechenbar. Kreisen oder "auskreisen" bezeichnet die Tatsache, dass man die Umlaufbahn verlassen hat und um sich oder um andere kreist, ohne zu seiner Mitte zurückzufinden. Wer die Beherrschung verliert und außer Kontrolle gerät, TILT aus. Vorbild ist die Ansage 'tilt' beim Flippern, die signalisiert, dass nichts mehr geht. Der Apparat schaltet ab, die Kugel geht ins Aus." (Trendbüro, 2000)
So wurde meine Reise doch noch mit einem Erfolg gekrönt. Ein kleiner Sieg, der mich darin bestätigte, dass es sich bei dem Begriff doch um eines jener Szene- oder Trendwörter handele. Doch . . . der zu erwartende und erwartete Flipper dient nur als Vorbild. Der Begriff hat sich gehäutet, mutierte, wurde größer. Er wurde zum Alien. Kein leichtes Rempeln am Flipper mehr, sondern ein totales "Out-of-Control". Die Suche geht also weiter.
Etappe 2: Die Newsgroups
Next Station. Das Usenet und die Newsgroups. Selbstverständlich gibt es eine Newsgroup in der alles (Un-)Mögliche zum Thema "Flipper" besprochen wird (red.games.pinball). In Anbetracht des konstatierten Bedeutungswandels und dem Postulat der rein sprachlichen Betrachtung des Begriffes, erscheinen mir andere Newsgroups interessanter. In den Gruppen "de.etc.sprache.deutsch" und "de.etc.sprache.misc" habe ich in regelmäßigem Abstand nach der Etymologie und den Entsprechungen zum Begriff "Tilt" gefragt und dabei ein "Plonk" in Kauf nehmen müssen. (Wenn Mensch in einer Newsgroup zu oft ge-"plonkt" wird, dann steht ein Rausschmiss bevor.
Ein sehr demokratisches Szenario - alles in allem). Die Erklärungsversuche kreisen alle um den Bereich Flipper und Pinball. Beispielsweise: "Ein Flipper (das Spielgerät mit der Kugel) meldet 'Tilt', wenn der Spieler das Gerät zu heftig rüttelt, um den Lauf der Kugel zu beeinflussen." (Von Thomas B.) Allgemeiner wird Tilt mit "kippen" und "neigen" gleichgesetzt. Ein Beitrag von Joachim P. "Tilt heißt 'gekippt'. So habe ich's vor Jahren sogar mal auf Flippern gesehen." Oder ein anderes Beispiel: "Weil man auf die Idee kommen könnte, die Kiste anzuheben, damit die Neigung des Spieltisches flacher wird, um so die Kugel länger im Spiel zu halten. Der eingebaute Neigungssensor schaltet dann aus, und die englische Meldung ,TILT!' (= geneigt, gekippt) erscheint auf dem Display." Von Matthias K. Es scheint also ein breiterer Konsens hier zu herrschen und der Begriff wird in allen Statements in Verbindung mit dem Gerät Flipper (zu englisch Pinball) gesehen. Es gab lediglich ein Posting, das auf die Eintragung im "Szenewörterbuch der deutschen Sprache" von Wippermann und Trendbüro verweist. Interessant hier eine Antwort: "Neu ist das aber nicht. Ich habe den Ausdruck 'der tilt gleich (aus)', obwohl ich nie einer Drogenszene angehört habe, schon vor bestimmt 15 Jahren gehört." Einerseits bestätigt dieses Posting die Existenz von "Tilt" in der angeführten Bedeutung, andererseits wird dem Begriff eine gewisse Langlebigkeit attestiert.
Bei "Tilt" handele sich um ein ganz spezifisches Objektiv, mit dem sich Bilder "entzerren" ließen. Der Begriff verweist auf eine bestimmte Eigenschaft des Objektivs. Es ließe sich ein wenig neigen, um eine Entzerrung herbeizuführen.
Ein weiterer fachsprachlicher Gebrauch des Begriffes stammt aus dem Reich der Tiere. "Head Tilt" ist eine Krankheit, die bei Kaninchen Gleichgewichtsstörungen auslöst.
Etappe 3: Das Internet
Eine wahre Ochsentour bahnte sich an. Eine dritte Etappe auf der Suche nach einer definitiven Bedeutung. Dieses Mal der Sprung ins Internet. Das Online-Archiv von "derStandard.at" gab nach einigen Abfragen und einigem Hadern mit der Volltextsuche seine Textschätze doch Preis. Drei Belege für das Jahr 2001.
Ich zitiere Beleg 1: "Fußball: Austria Wien wird sich vorläufig definitiv NICHT der Dienste des FC Tirol Oldies Roland Kirchler (31) versichern, nachdem man vergangene Woche die Verhandlungen abgebrochen, wieder aufgenommen hatte, ist nun wieder tilt. (. . .)"
("Der Standard", 25. Jänner 2001)
Der Begriff wird hier in einer übertragenen Bedeutung verwendet. Grundbedeutung ist nach wie vor das "rien na va plus" der Pinball-Spiele. Die Bedeutung von unkontrollierbarem Drogentrip oder Tierkrankheit sind definitiv auszuschließen. Es wird auf ein abruptes, möglicherweise bewusst herbeigeführtes Ende der Verhandlungen hingewiesen. Lexikalisch gesprochen: tilt sein - in der Redewendung: "ist nun wieder tilt." - wurde abrupt beendet.
Beleg 2: "Hier kommen im Unterschied zu vielen anderen musikalischen Genres tatsächlich nur die Besten durch und laufen dabei auch noch Gefahr, dabei kommerziellen Selbstmord zu begehen: Man denke nur an die Karrieren von altvorderen Pathos-Großmeistern wie Scott Walker mit seinem letzten, 1995 erschienenen Meisterwerk und Staubfänger Tilt (. . .)"
("Der Standard", 26. Jänner 2001)
Der Titel ist Name des Programms, respektive des Albums. Laut CD-Kritik ist das Album von Scott Walker sehr dazu geeignet, gewohnte Hörgänge und gewöhnliche Songversatzstücke zu sprengen. "(. . .) keine eingängigen Melodien oder eindeutigen Geschichten mehr, kein durchgängiges Klangbild. Stattdessen wirft er (Scott Walker) seine Hörer in ein Wechselbad von Klängen, abrupten Dynamikwechsel, pendelt zwischen bedrohlichen Percussion-Sounds und großen Streicherarrangements hin und her."
Die Grundbedeutung von "verzerrt, geneigt" und bewusst stören bleibt uns erhalten. Es gibt jedoch keinen direkten Hinweis auf den "Flipper". Ich muss allerdings zugeben, dass ich mich hier auf die Kritik, also auf eine sekundäre Quelle verlasse und mir den akustischen Genuss dieses Albums erspart habe.
Beleg 3: "Besonders empfehlenswert: Unter ,Apotheke' wird ein Film zum Download angeboten, der zeigt, wie ,Hilfsbereitschaft' enden kann. Außerdem gibt es die Satire auf ein nicht unbekanntes deutsches Massenblatt: ,Tilt - angenehm anders.'"
("Der Standard", 21. April 2001)
"Tilt" dient hier als parodistischer Titel auf das deutsche Massenblatt "Bild" (die österreichische Entsprechung im Internet
Als Zeitungstitel scheint Tilt durchaus sehr beliebt. Eine weitere Recherche fördert einen Zeitungstitel zu Tage. "Tilt: Magazin gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär." Es handelt sich um eine durchaus ernst gemeinte und ernst zu nehmende Publikation in Deutschland. Die Ursprungsbedeutung von Tilt als Flipper-Begriff ist noch erhalten. Die HerausgeberInnen nehmen expliziten Bezug auf dieses Gerät und tauften eine Rubrik "Extraball". Zur Erklärung: Ein "Extraball" stellt eine Art Belohnung für eine besonders hohe Punktzahl beim Flippern dar.
Weitere Gebrauchsweisen
"TILT" als Akronym erfreut sich vor allem im anglophonen Sprachraum einer gewissen Beliebtheit. Die Universität Glasgow in Schottland taufte ihre Lern-Software TILT. ("Teaching and Learning Technology"), was angesichts der ursprünglichen Bedeutung des Wortes, bei mir doch gewisse Zweifel an der Effizienz dieser Lern-Software entstehen lässt. In den USA finden wir ein Texas Information Literacy Tutorial. Also ein Bibliotheksprogramm. Unklar ist, warum Bereiche der Bildung und der Universitäten sich immer wieder für diese akronymische Bildungen begeistern können, müsste Mensch doch die primären und sekundären Bedeutungen des Wortes Tilt berücksichtigen.
Aber auch Gevatter Zufall sollte mir einen weiteren Beleg zuspielen. Spielen versteht sich hier in seiner wortwörtlichen Bedeutung. In einem nicht mehr ganz taufrischen Adventure (gemeint ist ein bestimmter Typus von Computerspielen - zu Risiken und Nebenwirkungen solcher Spiele fragen sie ihren Sohn und beobachten Sie ihre Tochter) namens Toonstruck ist mir der hier zur Diskussion stehende Begriff tatsächlich untergekommen.
Kurz zum Plot des Spiels. Ein desillusionierter und nicht mehr ganz taufrischer Comiczeichner irrt durch sein von ihm gezeichnetes Cartoon-Land und soll die Guten vor den Bösen retten. An einer Stelle gibt es eine Sicherheitstür in Form eines riesigen Clowngesichts. Um diese Tür zu entsichern, muss Mensch das Clowngesicht in einer vorgegebenen Weise manipulieren. Macht Mensch einen Fehler, erscheint in den Augen, slotmachinelike, ein "Tilt" und die Nase des Clowns entpuppt sich als Boxhandschuh mit Federmechanismus. Der Boxhandschuh landet in der Magengrube von Mal Block - dem Comiczeichner. "Tilt" also hier im Sinne von "Falsche Eingabe" und "Du bist k. o."
Zusammenfassend
Der Begriff "Tilt" existiert. Die Belege sind eindeutig. Er existiert in mehreren Bedeutungsvarianten, denen in den meisten Fällen die Bedeutung "neigen", "in die Schräglage kommen" zu Grunde liegt. Die Recherche ergibt, dass das Spielgerät "Flipper" oder "Pinball" zur Verbreitung des Begriffes beigetragen hat und dass die meisten Menschen am ehesten an diese spezifische Bedeutung denken. Daneben wurde der Begriff zumindest in zwei verschiedenen Gebieten als Fachterminus eingeführt (Veterinärmedizin und Fotografie). Funktion und Anwendung des Objektivs verweisen auf die ursprüngliche Bedeutung von "neigen", "in die Schräglage kommen". Auch die "Head Tilt"-Krankheit bei Kaninchen weist auf diese Kernbedeutung hin. Selbst jene Erklärung, die wir aus dem DUDEN-Szenewörterbuch entnommen haben, beinhaltet die Kernbedeutung. Lediglich der sprachliche Kontext hat sich stark verschoben. Ich vertrete die These, dass der Begriff weniger im aktiven Wortschatz der SprecherInnen vorkommt, er jedoch weitgehend bekannt ist. Es ist einer jener Begriffe, die eine besondere Konsistenz in ihrer Szenesprachlichkeit aufweisen. Mit anderen Worten: "Tilt" - in welcher Gebrauchsweise auch immer - wird wohl kaum der Weg in die Standardsprache gelingen. Dafür erscheint er in Subsystemen mit einer bemerkenswerten Hartnäckigkeit belegt zu sein.
Bibliographie:
DUDEN: Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. 2. Auflage. Mannheim 1989.
DUDEN: Wörterbuch der Abkürzungen.
4. Auflage, Mannheim 1999.
DUDEN: Fremdwörterbuch. 5. Auflage. Mannheim 1990.
Carstensen, Busse, Schmude: Anglizismen-Wörterbuch. Walter de Gruyter, Berlin/NY 1996.
Schulz, Basler: Deutsches Fremdwörterbuch.Walter de Gruyter, Berlin, NY 1981.
Krämer, Walter: Modern Talking auf deutsch. Piper, München 2000.
Loskant, Sebastian: Das neue Trendlexikon. Bertelsmann Lexikon Verlag, o. J.
Lodige, Hartwig: Ketchup, Jeans und Haribo. Ullstein Verlag, 1998.
Wippermann, Peter und Trendbüro: Wörterbuch der Szenesprachen. Dudenverlag, Mannheim 2000.
Kluge: Etymologisches Wörterbuch. 23. Auflage 1995. Walter de Gruyter, Berlin/NY 1995.