MCS Häufigkeit - international & Deutschland

MCS Häufigkeit - international & Deutschland

Beitragvon Janik » Montag 9. April 2007, 17:11

Maschewski schreibt im Sept. 2000 in der Zeitung der Facharzt über die Häufigkeit von MCS.
Ich halte die Zahlen für Deutschland für untertrieben, als Anhaltspunkte sind sie irgendwo verwertbar.


Originalia: Schätzung der MCS-Prävalenz




Prävalenz und Inzidenz


Häufigkeit wird epidemiologisch präzisiert in "Prävalenz" und "Inzidenz". Prävalenz ist die Häufigkeit einer Krankheit in einer Personengruppe ("Population") zu einem bestimmten Zeitpunkt ("Punktprävalenz"). Wenn die Erhebung aber zeitlich ausgedehnt ist, oder die Krankheit sich selten manifestiert, wird die Prävalenz oft auf einen begrenzten Erhebungszeitraum bezogen ("Periodenprävalenz" [37]). Inzidenz ist die Häufigkeit der Neuerkrankung in einem bestimmten Zeitraum. Werden Prävalenz- und Inzidenzzahlen zur Größe der Population in Beziehung gesetzt, spricht man von "Prävalenz-" und "Inzidenzraten". Die Prävalenz ist eine "Bestandsgröße", also abhängig von Zu- und Abgängen, die Inzidenz eine reine "Zugangsgröße".

Prävalenz und Inzidenz stehen in engem Zusammenhang: Die Prävalenz steigt mit Inzidenz, Dauer der Erkrankung und ihrer Nicht-Tödlichkeit. Zum Beispiel ist trotz nur mittlerer Inzidenz rheumatischer Erkrankungen ihre Prävalenz sehr hoch, da sie meist unheilbar sind, aber nicht zum Tod führen. Trotz mittlerer Inzidenz von Lungenkrebs ist seine Prävalenz niedrig, da er praktisch unheilbar ist und schnell zum Tod führt.

Meist wird mit "Prävalenz" genauer die Prävalenz in der Gesamtbevölkerung bzw. "bevölkerungsweite" Prävalenz gemeint. Da eine Untersuchung der Gesamtbevölkerung sich praktisch verbietet, muss die bevölkerungsweite Prävalenz aus der Krankheitshäufigkeit in Untergruppen der Bevölkerung geschätzt werden. Krankheitshäufigkeiten können aber zwischen Bevölkerungsgruppen stark variieren, in Abhängigkeit von zum Beispiel Alter, angeborener und erworbener Anfälligkeit (Disposition), Exposition, Risikoverhalten und medizinischer Versorgung. Beispiele sind die unterschiedlichen Häufigkeiten von Herzinfarkten bei Managern, LKW-Fahrern und Briefträgern, Brustkrebs bei jungen Mädchen, alten Männern und Frauen oder HIV-Infektionen bei Westberlinern, Ostberlinern und Nordfriesen.

Aus Erkrankungshäufigkeiten in Stichproben aus Untergruppen der Bevölkerung lassen sich daher nur mit großer Vorsicht Schätzungen auf die bevölkerungsweite Prävalenz ableiten. Stichproben bilden weder in ihrer Zusammensetzung die Bevölkerung ausreichend ab (sie sind nie völlig "repräsentativ"), noch gleichen sich zufällige Abweichungen in größeren Stichproben befriedigend aus. Daher lassen sich Stichprobenergebnisse nur nach Einbeziehung von "Sicherheitsfaktoren" zur Schätzung der bevölkerungsweiten Prävalenz verwenden. Eine empirisch fundierte und hinreichend präzise Schätzung der MCS-Prävalenz ist zum Beispiel sinnvoll für die Planung von Anzahl und regionaler Verteilung ambulanter (Umweltärzte, MCS-Schwerpunktpraxen) und stationärer Versorgungseinrichtungen (Umweltkliniken/-abteilungen/-stationen, MCS-Betten), die Entscheidung darüber, ob MCS politisch besser durch bevölkerungsweite Prävention, speziellen Schutz hochempfindlicher oder hochexponierter Minderheiten, gezielte Entschädigung der Betroffenen, oder eine Mischung dieser Komponenten zu regeln ist.



Schätzungen der MCS-Prävalenz in den USA


Im folgenden wird von der MCS-Definition von CULLEN [13] ausgegangen: "… wiederkehrende Symptome an mehreren Organsystemen … Reaktion auf nachweisbare Exposition gegenüber vielen chemisch nicht verwandten Verbindungen … bei Dosierungen weit unterhalb derer, die in der Allgemeinbevölkerung Gesundheitsstörungen verursachen". Diese Definition hat Schwächen, verkennt unter anderem MCS-Fälle mit unbeachteten, unbekannten, nicht-diagnostizierbaren Auslösern, mit chronifizierten, von den Auslösern teilweise abgekoppelten Verläufen. Allerdings ist diese Definition gut bekannt und daher als erste Annäherung weiterhin sinnvoll.

Einige Arbeiten liefern einen Überblick über empirische MCS-Studien in den USA. ASHFORD/MILLER [2] und DONNAY [16] zitieren acht Befragungsstudien zur MCS-Häufigkeit in bestimmten Personengruppen:

– Befragung von 3948 Beschäftigten der US-Umweltbehörde EPA in Washington (D.C.), bei denen nach Umzug in sanierte Gebäude eine SBS-Epidemie aufgetreten war [38]. 31% der Beschäftigten gaben eine Unverträglichkeit gegenüber diversen Chemikalien an.

– Befragung von 643 College-Studenten in Arizona nach Unverträglichkeit von fünf häufigen Gerüchen (Pestizide, Autoabgase, Farben, neue Teppiche, Parfüm) [4]. 66% der Befragten wurde von mindestens einem dieser Gerüche übel, 15% von vier der Gerüche.

– Befragung von 263 Personen über 60 Jahren in Arizona nach derselben Geruchsunverträglichkeit [5]. 57% der Befragten wurde von mindestens einem dieser Gerüche übel, 17% von vier Gerüchen.

– Befragung 192 älterer Erwachsener in Arizona [6]. Von diesen hatten 4% eine extreme Chemikalienunverträglichkeit ärztlich attestiert bekommen. 34% bezeichneten sich als deutlich chemikalienempfindlich.

– Telefonische Befragung von 4046 zufällig ausgewählten Haushalten in Kalifornien [25]. 16% der Befragten gaben Unverträglichkeit auf Alltagschemikalien an, mit Manifestation in verschiedenen Organen. 6% hatten von einem Arzt bereits die Diagnose Umweltkrankheit oder Chemikalienunverträglichkeit erhalten.

– Befragung von 809 Psychologiestudenten in Arizona [7]. 28% bezeichneten sich als stark chemikalienempfindlich. Nur 0,2% hatten eine ärztliche Diagnose MCS.

– Telefonische Befragung von 1027 zufällig ausgewählten Personen in ländlichen Gebieten von North Carolina [31]. 5 % hatten täglich Gesundheitsprobleme durch Chemikalien (inklusive Zigarettenrauch).

– Befragung von 160 älteren Kriegsveteranen in Arizona [8]. 37% waren stark chemikalienempfindlich.

Die INTERAGENCY WORKGROUP ON MULTIPLE CHEMICAL SENSITIVITY [22] zitiert noch folgende Studien zur MCS-Häufigkeit:

– MOOSER [33] schätzte aufgrund zahlreicher Hinweise von Arbeits-, Umweltmedizinern und Klinikern, dass 2–10% der Allgemeinbevölkerung durch MCS stark beeinträchtigt sind.

– Die US-amerikanische Umweltbehörde EPA berichtete 1991, dass ein Drittel der Befragten in klimatisierten Büros sehr empfindlich auf Chemikalien reagieren [18].

– 23% der Büroangestellten, die an einer SBS-Studie teilnahmen, fühlten sich (sehr) krank bei Exposition gegenüber mindestens drei der fünf Substanzen Pestizide, Autoabgase, Farben, neue Teppiche und Parfüm [3].

Daneben gibt es weitere Studien, die quantitative Informationen zu MCS liefern, sich aber nicht direkt in MCS-Häufigkeiten umrechnen lassen:

– Die "Northwest MCS Database" im US-Bundesstaat Washington (mit einer Bevölkerung von etwa 5 Millionen) sammelte in zwei Jahren 850 MCS-Betroffene. Diese häuften sich stark in bestimmten Betrieben und/oder Regionen; diese Cluster waren arbeits- oder umweltmedizinisch oft gut interpretierbar [28].

– CULLEN et al. [14] haben an der arbeitsmedizinischen Poliklinik der Yale University 2760 Patienten untersucht, von denen 49 als MCS-krank nach seiner Definition von 1987 diagnostiziert wurden. Sie waren – verglichen mit arbeitsmedizinischen Patienten allgemein – jünger, von höherem Sozialstatus, eher Frauen, arbeiteten häufig im Gesundheits- und Erziehungsbereich. Fazit der Autoren: Die Anzahl von MCS-Kranken sei sehr klein, die Krankheit entstehe selten im Hochdosis-Bereich, Schätzungen von Inzidenz und Prävalenz seien dringend erforderlich.

– In einer Antwort der alten Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Grünen [12, 32] wird angegeben, dass bereits 15% der US-Amerikaner chemikalien-empfindlich sind (neben MCS-Kranken auch Allergiker, Asthmatiker).

Probleme dieser US-Studien sind:

– das Fehlen einer einheitlichen, befriedigenden und diagnostisch eindeutig umsetzbaren Definition von MCS. Dies erhöht die Gefahr, dass Fälle anderer Krankheiten (etwa Lösemittel-Syndrom, SBS) als MCS gezählt werden, aber auch umgekehrt MCS-Fälle nicht erkannt und mitgezählt werden. Es besteht die Gefahr eines "Klassifikationsfehlers" [23],

– die nicht-repräsentative Zusammensetzung der Stichproben, also ihre Abweichung von der Bevölkerung hinsichtlich bestimmter Merkmale (zum Beispiel Alter, Beruf, Bildung, Region, ethnische Herkunft), die sich auf Disposition, Exposition und Krankheit auswirken. So repräsentieren sicherlich weder Psychologiestudenten noch Kriegsveteranen noch EPA-Mitarbeiter den US-Bevölkerungsdurchschnitt – bezogen auf die Gesamtbevölkerung besteht die Gefahr eines "Auswahlfehlers",

– die Beziehung der in einigen Studien verwendeten Geruchsunverträglichkeit (Kakosmie) zu MCS: Kakosmie kann zum einen als leichte Form einer homogen gedachten MCS gelten, bei der schwerere Formen immer auch Kakosmie mit umfassen. Zum anderen kann Kakosmie als eine leichte Variante einer heterogen gedachten MCS gelten, neben anderen Varianten ganz ohne Kakosmie,

– die Beziehung des von WALLACE et al. [38] untersuchten SBS zu MCS: SBS ist nicht gleich MCS, obwohl sich die Beschwerden ähneln können. Aber aus SBS entwickelt sich in einer Minderheit von Fällen MCS,

– die – oft nicht erfolgte, nicht einheitliche – Abgrenzung verschiedener Schweregrade von MCS, von leichter Geruchsunverträglichkeit bis zu lebensgefährlicher "Überempfindlichkeit auf alles",

– die Objektivität, Reliabilität und Validität der Angaben der Betroffenen zu Exposition und Krankheit, insbesondere die Beziehung dieser Angaben zu externen Indikatoren (Arbeitsplatzmessungen, Laborparametern, Testergebnissen, Verhaltensbeobachtungen). Es besteht die Möglichkeit eines "Erinnerungs-" oder "Klassifikationsfehlers".

Eine direkte Übertragung solcher an spezifischen Stichproben gewonnenen Ergebnisse auf die Gesamtbevölkerung ist nicht möglich. Zur Schätzung der bevölkerungsweiten MCS-Prävalenz lassen sie sich nur nach Anwendung besonderer Vorsichtsmaßnahmen verwenden. Trotzdem erscheint es wegen der – auch in den USA bestehenden – Nichtförderung methodisch sauberer und inhaltlich glaubwürdiger epidemiologischer Studien zu MCS sinnvoll, diese Informationen zur Schätzung der Größenordnung des Problems zu nutzen.

Zusammenfassend gab in den US-Studien meist ein Drittel der Befragten Unverträglichkeiten gegenüber bestimmten Chemikalien an. Bei etwa 5% war diese Unverträglichkeit extrem, erfolgte also auf viele Chemikalien, stark und oft (täglich). Mindestens diese 5% lassen sich deuten als MCS-Prävalenz in den untersuchten Gruppen. Auch in den USA – außer in Kalifornien – hat nur ein Bruchteil der Betroffenen (0,2–4%) eine MCS-Diagnose. Würden diese Ergebnisse auf die Allgemeinbevölkerung übertragen, ergäben sich für die USA Schätzungen der bevölkerungsweiten Prävalenz (mittlerer bis schwerer) MCS von 4–6%. Etwa jeder 20. US-Bürger hätte somit MCS. Bei einer Bevölkerung von etwa 255 Millionen (1992) ergäbe dies 10–15 Millionen MCS-Kranke in den USA. Die Zahl leichter MCS-Fälle läge um mindestens den Faktor 3 höher [25].

Die verschiedenen US-Studien stimmen in den ermittelten MCS-Häufigkeiten weitgehend überein, was für die Richtigkeit der Ergebnisse spricht. Die genannten methodischen Probleme (vor allem mögliche Auswahl- und Klassifikationsfehler) sind aber zu berücksichtigen. Um bei der Hochrechnung auf die Bevölkerung auf der "sicheren Seite" (aus Sicht der Verursacher und Hafter) zu bleiben, also eher eine Unter- als Überschätzung in Kauf zu nehmen, sollen hier, wie in der Toxikologie üblich, diese Ergebnisse als "Prävalenz-Schätzer" nur mit einen Sicherheitsfaktor von 10 angewendet werden. Die Größe des Faktors beruht auf einer Konvention – konkret sind die ermittelten MCS-Häufigkeiten durch 10 zu dividieren.

Der Sicherheitsfaktor soll mögliche Überschätzungen der MCS-Prävalenz durch höhere Empfindlichkeit, Exposition der untersuchten Personen oder durch falsch-positive MCS-Diagnosen ausgleichen. Ein Faktor von 10 erscheint groß genug, da aus den Berichten keine groben methodischen Mängel erkennbar sind, und die Ergebnisse unterschiedlicher Autoren und von Studien aus sehr unterschiedlichen Instituten gut konvergieren. Bei Anwendung des Sicherheitsfaktors 10 ergibt sich folgende Schätzung: bevölkerungsweite Prävalenz mittlerer bis schwerer MCS von 0,4–0,6% in den USA. Etwa jeder 200. US-Bürger hätte hiernach eine mittlere bis schwere MCS. Bei zirka 255 Millionen US-Bürgern ergäbe dies 1–1,5 Millionen MCS-Kranke in den USA.

Übertragen auf Deutschland mit einer Bevölkerung von etwa 81 Millionen (1993) und einer vergleichbaren Altersstruktur wäre nach diesen (schon mit dem Sicherheitsfaktor umgerechneten) US-Schätzungen der MCS-Prävalenz bei uns mit 320000–490000 (mittleren bis schweren) MCS-Fällen zu rechnen. Allerdings ist die Übertragbarkeit der US-Ergebnisse unsicher wegen bestehender Unterschiede in Lebensweise, Arbeits- und Umweltschutz.



MCS-Prävalenz in Deutschland


In Deutschland gibt es bisher keine Studien, die die MCS-Häufigkeit in bestimmten Personengruppen ermitteln. Daher muss für Schätzungen der MCS-Prävalenz auf Daten aus Studien mit anderer Zielsetzung zurückgegriffen werden. Diese unterscheiden sich stark nach Vorannahmen, Transparenz und Qualität der Methodik und Interpretation. Meist werden Personen untersucht, die glauben, umweltkrank zu sein – selten dagegen Exponierte. Die Analysen gehen also meist von der Krankheit aus, nicht von der Exposition. Einige Untersuchungen konzentrieren sich dann auf die Exposition, andere auf das Beschwerdebild.

– ALTENKIRCH [1] stellt zehn kurze Fallbeispiele aus einer undefinierten Population vor. Vermutlich handelt es sich um ausgewählte Probanden einer Pyrethroid-Studie (zur Kritik [35]). Die Fallbeschreibungen enden immer mit der Bemerkung "neurologischer Status und internistische Befunde einschließlich technischer Zusatzuntersuchungen unauffällig". Die Diskussion vernachlässigt die vorher erwähnten, meist starken und empirisch belegten Expositionen, verwirft somatische und zitiert zustimmend psychologische Erklärungsansätze für MCS, wie Depression, Angstzustände und Somatisierungsstörungen. MCS hätte somit – in dieser sehr kleinen und nach unbekannten Kriterien zusammengestellten Gruppe von vermutlich Pyrethroid-Exponierten – die Häufigkeit 0%.

– EIS et al. [17] berichten über 49 von "rund 70 Anfragen" an eine Umweltambulanz. In 6% der Fälle sei ein Zusammenhang von Exposition und Beschwerden plausibel, in 24% (oft mit erhöhten PCP-, Lindan- oder Pyrethroid-Werten) fraglich, ansonsten nicht plausibel. Bei 37% diagnostizieren EIS et al. "psychosomatische Komponenten" oder "psychische Fixierung", was weiter diskutiert wird [11]. Hiernach liegt in dieser kleinen, nach unbekannten Kriterien ausgesuchten, Gruppe von Personen mit Gesundheitsbeschwerden die Häufigkeit von Umweltexpositionen als möglicher Ursache bei 6–30%.

– Bei einer prospektiven Untersuchung von 18 Beschäftigten einer umfassend sanierten Klinik wurde in den Räumen eine langfristig hohe Lösemittel-Exposition gefunden, mit bis zu 86 Einzelsubstanzen [19]. Vier Wochen nach Sanierung hatten 77% der Befragten dauerhafte Gesundheitsprobleme, vor allem im Haut-, Schleimhaut- und ZNS-Bereich, die auch bei MCS häufig sind. MCS hätte also – in dieser kleinen Gruppe von hochgradig Lösemittel-Exponierten – eine Häufigkeit von maximal 77%.

– KRAUS et al. [24] berichten über 94 Patienten des Erlanger Universitätsinstituts zur Umweltberatung. Erhöhte Schadstoffwerte werden im Biomonitoring nur in 11% der Fälle und geringgradig festgestellt. Zwei Drittel der Patienten zeigen psychiatrische Auffälligkeiten (neurotische, depressive und Somatisierungsstörungen), die umstandslos als Ursachen, nicht Wirkungen der Gesundheitsstörungen gedeutet werden : "… ein Kausalzusammenhang zwischen den zahlreichen Beschwerden und der angeschuldigten Gefahrstoffbelastung (war) in keinem der Fälle belegbar" (zur Kritik [34]). Die Häufigkeit von Umweltexpositionen als möglicher Ursache der Gesundheitsprobleme wäre hiernach in dieser mittelgroßen, stark ausgewählten Gruppe 0%.

– LOHMANN et al. [27] werteten Arztbögen einer Praxis und einer Umweltklinik für 466 Patienten mit Verdacht auf neurotoxische Erkrankung aus. Bei 151 dieser Patienten bestand MCS, bei 90% von ihnen halten die Autoren eine Verursachung durch Umweltschadstoffe für wahrscheinlich oder möglich. Die MCS-Häufigkeit in dieser großen, stark ausgewählten Gruppe von Patienten mit Verdacht auf neurotoxische Erkrankung ist hiernach 33%, die Häufigkeit von Umweltexpositionen als wahrscheinlicher Ursache der MCS wäre 90%.

Aus weiteren Erhebungen lassen sich nur sehr indirekte Hinweise auf die MCS-Häufigkeit gewinnen:

– Die Interessengemeinschaft der Holzschutzmittel-Geschädigten organisierte zeitweise über 1100 Betroffene. Ihr lagen etwa 50000 Meldungen von Betroffenen (Einzelpersonen, Familien) vor. Die Mehrheit von ihnen zeigte vielfältige Gesundheitsstörungen, die mit MCS vereinbar waren. Die Verursachung oder zumindest Auslösung dieser Gesundheitsprobleme durch Holzschutzmittel war meist gut belegt und plausibel.

– KUKLINSKI [26] stellt Untersuchungsergebnisse aus einer Stichprobe der in Frankfurt/M. vermieteten 2800 ehemaligen US-Army-Wohnungen vor. Die Untersuchung war veranlasst worden, da viele Mieter über Hautausschläge, Atemwegserkrankungen, Asthma bronchiale, massive Kopfschmerzen und andere Symptome (die auch bei MCS häufig sind) klagten. In fast allen Wohnungen fanden sich hochkonzentriert PCBs, DDT, Chlorpyrifos und PAKs, in bis zu einem Drittel der Wohnungen weiterhin hohe Belastungen mit Permethrin, Dieldrin und Moschusketonen.

– MCS scheint häufig eine Komplikation des Lösemittel-Syndroms zu sein. Die Zahl der Lösemittel-Geschädigten bei uns ist unbekannt, trotz Anerkennung als Berufskrankheit seit 1997. In Dänemark wurden allein 1984 über 140 Fälle von "Malerkrankheit" als Berufskrankheit anerkannt [10]. Wenn die dänischen Daten realistisch sind [21], Häufigkeit und Tätigkeit der Maler sich ähneln, wären bei uns, mit 15-fach größerer Bevölkerung, 2100 Fälle von Malerkrankheit jährlich anzuerkennen.

– 1996 überprüften Berufsgenossenschaften in Deutschland 3176 Verdachtsanzeigen auf Gesundheitsschädigung durch Chemikalien, davon 2631 auf Schädigung durch Lösemittel, Pestizide und sonstige chemische Stoffe [20]. Von letzteren wurden 462 (18%) anerkannt und 253 (10%) entschädigt. Bei den das Lösemittel-Syndrom miterfassenden Berufskrankheiten – Bk 1302 (Halogenkohlenwasserstoffe), 1303 (Benzol und Homologe) und 1305 (Schwefelkohlenstoff) – gab es 1277 Anzeigen, aber nur 191 Anerkennungen und 113 Entschädigungen [29]. Verglichen mit Dänemark und Ländern mit ähnlicher Beachtung berufsbedingter Neurotoxizität scheint in Deutschland eine deutliche Unter- und Fehlerfassung von Lösemittel-Vergiftungen vorzuliegen.

– Eine eigene MCS-Erhebung in Deutschland mit Schwergewicht auf dem Zusammenhang von Beruf und MCS erreichte direkt oder über Mediatoren (Ärzte, Selbsthilfegruppen) 613 Personen, die von Ärzten die Diagnose MCS erhalten hatten oder begründet glaubten, MCS zu haben; die antwortenden Personen waren Selbstmelder [30]. Bei 67% der Befragten war das Vorliegen von MCS nach den CULLEN-Kriterien wahrscheinlich, bei weiteren 18% möglich (zusammen 519 Fälle).

– Eine eigene Umfrage bei 61 niedergelassenen Ärzten und Ambulanzen, die sich bisher in Deutschland mit MCS befassen, wurde von 12 beantwortet. Die Anzahl mittlerer bis schwerer MCS-Fälle, die diese Ärzte/Ambulanzen pro Jahr behandeln, ist sehr unterschiedlich und reicht – nach eigenen Angaben – von 7 bis 360 MCS-Patienten. Insgesamt wurden von den 12 Ärzten/Ambulanzen jährlich 1830 MCS-Patienten angegeben. Da Doppelnennungen von Patienten möglich, aber bei der großen regionalen Streuung wenig wahrscheinlich sind, wird eine Doppelnennungs-Quote von 50% angenommen, die Zahl der Patienten also um ein Drittel gekürzt auf 1220. Wird weiter angenommen, dass die 12 rückmeldenden Ärzte/Ambulanzen repräsentativ sind für die 61 angeschriebenen, lässt sich errechnen, dass letztere jährlich 6200 MCS-Patienten (ohne Mehrfachnennungen) behandeln.

– Eine eigene Umfrage bei 33 Selbsthilfegruppen (SHG) und Beratungsstellen, die sich in Deutschland mit MCS befassen, wurde von 13 beantwortet. Die Anzahl der vermutlich MCS-Kranken, die diese SHG/Beratungsstellen pro Jahr direkt oder telefonisch beraten oder betreuen, ist sehr unterschiedlich, reicht – nach eigenen Angaben – von 5 bis etwa 1000 Personen. Insgesamt wurden 2247 MCS-Betroffene angegeben. Da Doppelnennungen wahrscheinlich sind, wird eine Doppelnennungs-Quote von 100% angenommen, die Zahl der MCS-Betroffenen also halbiert auf 1123. Wird weiter angenommen, dass die 13 rückmeldenden SHGs/Beratungsstellen repräsentativ sind für alle 33 angeschriebenen, lässt sich hochrechnen, dass diese pro Jahr zirka 2840 MCS-Betroffene (ohne Mehrfachnennungen) beraten oder betreuen.

Diesen Studien und Erhebungen liegen keine einheitliche Definition und Diagnose von MCS (bzw. Umweltkrankheit) zugrunde. Die zahlenmäßige Genauigkeit ist unterschiedlich, die untersuchten Personen sind oft stark ausgewählt, zum Teil ohne Angabe von Kriterien. Die spezifische Zusammenstellung der Untersuchungsverfahren wird selten begründet, die Ergebnisse selten dargestellt; die Interpretation der Daten ist häufig einseitig. Die Ergebnisse sind daher wahrscheinlich oft durch Auswahl- und/oder Klassifikationsfehler beeinträchtigt und divergieren entsprechend stark.



Eigene Schätzung der MCS-Prävalenz


Trotzdem lassen sich aus den Daten grobe Schätzungen der MCS-Prävalenz gewinnen unter folgenden Annahmen: der "wahre Wert" der Prävalenz wird durch die vorliegenden Daten und daraus erfolgenden Hochrechnungen ähnlich über- und unterschätzt – die Abweichungen vom "wahren Wert" sind nicht extrem. Dann ist es möglich, unterschiedliche Datensätze und Berechnungsverfahren für die Schätzung zu nutzen, analog der Meta-Analyse der Epidemiologie [36]. Meist beziehen sich die Daten – damit auch die Hochrechnungen – auf einen bestimmten Zeitraum (meistens ein Jahr), statt auf einen Zeitpunkt. Es handelt sich also um Schätzungen der Periodenprävalenz.

Schätzung-1 (S1)

LOHMANN et al. [27] fanden MCS bei 151 von 466 ausgewählten Patienten einer Praxis und einer Klinik. Bei den Patienten bestand der Verdacht einer neurotoxischen Erkrankung. Beide Einrichtungen werden von MCS-Kranken aus dem Norden bevorzugt, haben aber lange Wartezeiten. Nimmt man an, dass

– diese Einrichtungen nur Patienten aus Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Hamburg und Bremen haben (zusammen 12,7 Millionen Einwohner, knapp ein Sechstel der deutschen Bevölkerung),

– aus diesen Regionen wegen Konkurrenz anderer Umweltärzte nur etwa ein Drittel der potentiellen Patienten erfasst wurden,

– wegen Unkenntnis oder Resignation nur etwa ein Drittel der Patienten mit "wahrer MCS" deswegen zu einem einschlägig qualifizierten Arzt geht,

– nur ein Fünftel der Personen mit "wahrer MCS" anderslautende Diagnosen von Ärzten infrage stellt,

ergibt sich als Schätzung der Anzahl potentieller Patienten mit "wahrer MCS" in der BRD: (151 x 6 x 3 x 3 x 5) = 40770 Personen.

Schätzung-2 (S2)

Die Summe der MCS-Patienten, die 61 mit MCS befasste Ärzte/Ambulanzen pro Jahr behandeln, wurde – ohne Doppelnennungen – mit etwa 6200 errechnet. Da mir einerseits viele Ärzte/Ambulanzen, die MCS-Patienten behandeln, nicht bekannt waren (Annahme: die Hälfte), andererseits viele Patienten gar nicht mehr deswegen zum Arzt gehen (Annahme: ein Drittel geht), ergibt sich folgende Schätzung der MCS-Prävalenz aus Angaben MCS-behandelnder niedergelassener Ärzte: (6200 x 2 x 3) = 37200 Personen.

Schätzung-3 (S3)

Die Summe der bei 33 einschlägigen SHG/Beratungsstellen beratenen oder betreuten Personen wurde – ohne Doppelnennungen – mit etwa 2840 errechnet. Einerseits waren mir viele SHGs/Beratungsstellen unbekannt (Annahme: die Hälfte), andererseits kontaktieren die meisten Betroffenen solche Stellen nicht (Annahme: ein Viertel kontaktiert). Schließlich ist MCS viel weniger bekannt als Lösemittel- und Holzschutzmittel-Syndrom. Daher wird unterstellt, dass ein relevanter Anteil von Betroffenen (Annahme: die Hälfte; als Nettoeffekt gegenläufiger Fehlzuweisungen) in SHG/Beratungsstellen mit anderer Thematik "aufläuft". Hiernach ergibt sich eine Schätzung der MCS-Prävalenz aus Angaben von SHG/Beratungsstellen: (2840 x 2 x 4 x 2) = 45440 Personen.

Schätzung-4 (S4)

Meine Studie [30] fand zirka 520 Personen, die wahrscheinlich von MCS betroffen sind. Allerdings wurde nur ein Teil (Annahme: ein Drittel) der Regionen erreicht. Zudem bemühten sich viele Betroffene aus Unkenntnis oder Resignation nicht um Zusendung eines Fragebogens (Annahme: ein Drittel bemüht sich). Weiterhin betrug der Rücklauf auch bei den Empfängern des Fragebogens nur etwa 40% (zwei Fünftel), da er als schwierig galt, und Schwerkranke kaum antworteten. Schließlich wurden nur solche Betroffenen erreicht, die sich mit anderslautenden Diagnosen nicht zufrieden gaben (Annahme: ein Fünftel akzeptiert nicht). Damit wäre die meiner Studie zugrundeliegende Population von wahrscheinlich MCS-Betroffenen: (520 x 3 x 3 x 5/2 x 5) = 58500 Personen.

Schätzung-5 (S5)

Die wichtigsten MCS-Auslöser in Deutschland sind Lösemittel, Holzschutzmittel, Pestizide/Pyrethroide und Medikamente sowie Amalgam. Wenn die von diesen Auslösern gesundheitlich Betroffenen geschätzt werden könnten, und hieraus die Anzahl der MCS-Betroffenen im engeren Sinne, wäre die Summe dieser Werte ein brauchbarer Schätzer der MCS-Prävalenz.

– Lösemittel: Bei Übertragung der dänischen Daten und Regelungen müssten in Deutschland etwa 2100 Fälle von Malerkrankheit jährlich anerkannt werden. Die Epidemiologie lösemittelbedingter Erkrankungen bei uns ist unbekannt. Bekannt ist aber, dass den meist hoch und chronisch lösemittelexponierten 352000 Malern/Lackierern sehr viel mehr andere Berufe gegenüberstehen – zusammen mindestens 3164000 Personen (darunter 200000 Drucker, 391000 Automechaniker, 126000 Laboranten, 187000 Chemieberufe, 2180000 Metallberufe – die von Lösemitteln ebenfalls, aber meist geringer betroffen sind. Es wird angenommen, dass sie mindestens noch einmal dieselbe Anzahl von Fällen des Lösemittelsyndroms verursachen. Diese zusammen 4200 Fälle lassen sich als Indikator für die Häufigkeit einer schweren Form von MCS (mit Berufs-/Erwerbsunfähigkeit) interpretieren.

– Holzschutzmittel: Der IHG lagen Anfang der 90er Jahre etwa 50000 Meldungen von Betroffenen (Einzelpersonen und Familien) vor. Die Desowag (Hersteller von Xylamon, Xyladecor) hatte etwa 4000 Meldungen. Die Industrie rechnete damit, dass jeder fünfte Haushalt Holzschutzmittel eingesetzt hat. Beim Bundesgesundheitsamt lagen etwa 1700 Schadensmeldungen vor; bei der Frankfurter Staatsanwaltschaft, die den Holzschutzmittel-Prozess führte, etwa 3500 Meldungen. Man kann annnehmen, dass nur eine Minderheit (Annahme: ein Fünftel) der Personen mit vermutlich holzschutzmittel-bedingten Gesundheitsschäden sich bei der IHG meldeten, noch viel weniger bei Desowag, BGA und Staatsanwaltschaft. Von diesen Meldungen war nur ein Teil (Annahme: die Hälfte) realistisch, wovon wiederum nur ein Teil (Annahme: die Hälfte) polysymptomatische Beschwerden nach Art der MCS hatte. Damit wären schätzungsweise (50000 x 5 x 1/2 x 1/2) = 62500 Personen von Holzschutzmitteln gesundheitlich betroffen, mit Auftreten MCS-artiger Symptome.

– sowohl für Pestizide/Pyrethroide als auch für Medikamente/Amalgam liegen mir keine Daten vor.

Es lässt sich also nur die Anzahl von Personen schätzen, die von zwei der vier Hauptauslöser (Lösemittel und Holzschutzmittel) betroffen sind: 4200 + 62500 = 66700. Da die Exposition mit Amalgam sehr groß ist und oft dadurch verursachte MCS-artige Gesundheitsprobleme berichtet werden, und auch bei Pestiziden, vor allem Pyrethroiden, eine relevante Exposition vorliegt, wird angenommen, dass diese beiden Quellen die Zahl der von Lösemitteln und Holzschutzmitteln verursachten MCS-Fälle noch einmal um mindestens ein Drittel vergrößern, also 66700 x 4/3 = 88900 Personen.

Eine grobe, aber empirisch fundierte Schätzung der MCS-Prävalenz ergibt sich als arithmetisches Mittel der dargestellten Einzelschätzungen:

Präv = [(S1 + S2 + … Sm)/m]

wobei: S1 = erste Schätzung der MCS-Prävalenz und

m = Anzahl der Schätzer.

Die ermittelten Zahlen eingesetzt ergibt dies:

Präv = [(40770 + 37200 + 45440 + 58500 + 88900)/5] = 54152

Für Deutschland 1998 wird also eine Prävalenz mittelschwerer bis schwerer MCS von etwa 54000 Personen und eine Prävalenzrate von 67 pro 100000 Personen (also 0,067%)geschätzt. Dies liegt im Vergleich zu den Schätzungen für die USA um den Faktor 75 unter den direkt aus Studien ableitbaren Werten, und um den Faktor 7,5 unter der vorgeschlagenen reduzierten Schätzung für die USA. Sofern sich die wahren MCS-Prävalenzen in den USA und Deutschland ähneln, ist die vorgelegte Schätzung für Deutschland offensichtlich sehr vorsichtig.

Diese Prävalenzschätzung besagt, dass etwa eine von 1500 Personen in Deutschland (mittel-) schwer von MCS betroffen ist. MCS ist damit eine seltene Gesundheitsstörung: In Hamburg wäre mit "nur" 1100 Fällen zu rechnen, in Berlin mit 2300. Bei einer Prävalenz dieser Größe ist MCS kein gut bekanntes Massenphänomen, von dem potentiell jeder betroffen ist, was zu Verständnis und Solidarität für Betroffene führt – aber auch kein sehr seltenes, exotisches Individualphänomen, das gesellschaftlich ignoriert werden kann, und nur für vereinzelte Betroffene und hochspezialisierte Dienstleister von Relevanz ist.

Wahrscheinlich ist die obige Schätzung aber übervorsichtig, also eine Unterschätzung. Ein Indiz: viele MCS-Betroffene erhalten neben der MCS-Diagnose oft auch andere, besonders psychiatrische und psychosomatische Diagnosen (eine MCS-Diagnose trotz "wahrer" psychosomatischer Störung ist viel seltener). Dies spricht dafür, dass sich auch sonst in psychiatrischen und psychosomatischen Diagnosen MCS-Fälle verbergen können.

Eine quantitative Abschätzung dieser Fehldiagnosen ist schwierig, da gute Daten zur bevölkerungsweiten Prävalenz psychiatrischer und psychosomatischer Krankheiten kaum vorliegen. Die Gemeindestudie von DILLING et al. [15] ermittelte 18,6% behandlungsbedürftig psychisch Kranke in Oberbayern. Hochgerechnet auf 81 Millionen Einwohner [9] ergibt dies etwa 15 Millionen psychisch Kranke. Nimmt man weiter an, dass nur 1% dieser psychischen Erkrankungen durch Umwelt- und Arbeitsstoffe (also neurotoxisch) verursacht ist und sich als MCS äußern, ergibt sich hieraus eine Schätzung der MCS-Prävalenz von 150000 Personen. Dabei ist die Annahme von 1% schadstoff-bedingten psychischen Störungen sehr vorsichtig (niedrig), verglichen mit Schätzungen des alkohol- oder drogenbedingten (ebenfalls neurotoxischen) Anteils. Nach DILLING et al. beruhen 13% der gefundenen psychischen Störungen auf Alkohol- oder Drogenabhängigkeit.



Schlussbemerkung


In der obigen Schätzung wurde versucht, trotz Fehlens epidemiologischer Studien grob den quantitativen Umfang des MCS-Problems aus zwar "weichen", aber empirisch fundierten Daten abzuschätzen. Eine solche grobe Schätzung kann für praktische Zwecke ähnlich nützlich sein wie präzisere epidemiologische Berechnungen. Allerdings haben letztere einen höheren wissenschaftlichen und politischen Status.

Angesichts der sehr geringen öffentlichen Förderung von MCS-Forschung in Deutschland wäre zu überlegen, ob nicht in einem alternativen Forschungsverbund unter Mitarbeit niedergelassener Ärzte und Nutzung der dort schon vorhandenen Daten eine Art "explorativer Epidemiologie" zu MCS aufgebaut werden kann. Diese wäre bestenfalls kostengünstig, einfach, schnell, flexibel, inhaltlich unabhängig und betroffenennah – außerdem sicher arbeitsintensiv. Bei Gelingen könnte sie dazu dienen, die beobachtbare politische Blockierung des MCS-Themas – zum Beispiel durch Umdeutung in eine psychische Störung, Minimierung und Verzögerung der Forschung – zu umgehen und aufzuheben.




Literatur

1. Altenkirch H: Multiple chemical sensitivity (MCS)-Syndrom. Gesundheitswesen 57 (1995) 661–666
2. Ashford N, Miller C: Chemical exposures – low levels and high stakes. 2nd edition. Van Nostrand Reinhold, New York (1998)
2nd edition. Van Nostrand Reinhold, New York (1998)
3. Baldwin CM et al.: The association of respiratory problems in a community sample with selfreported chemical intolerance. Eur J Epidem 13 (1997) 547–552
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https://http://www.facharzt.de/content/red.otx/171,535,0.html?sID=820b3dedaf6e64cf77433c7f175cb729
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MCS Häufigkeit in Deutschland höher als geschätzt

Beitragvon Sato » Montag 9. April 2007, 19:10

Ich beschäftige mich im Rahmen meiner Diplomarbeit mit dem Thema MCS.
Die deutschen Prävalenzzahlen erscheinen unrealitisch und stark unterdimensioniert.
Das Fehlen adäquater Prävalenzstudien und anderweitiger MCS Studien in Deutschland,
kann damit begründet werden,daß man kein weiteres Öl ins Feuer schütten will.
Sato
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MCS Häufigkeit - international & Deutschland

Beitragvon Alex » Mittwoch 18. April 2007, 23:57

Multiple Chemical Sensitivity und subjektive Chemikalienempfindlichkeit in Deutschland – Ergebnisse einer bevölkerungsbasierten Befragung

Constanze Hausteiner; Susanne Bornstein; Jochen Hansen; Hans Förstl; Thomas Zilker
Korrespondenzautor: Dr. med. Constanze Hausteiner, Toxikologische Abteilung der II. Med. Klinik der Technischen Universität München, Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München, Ismaninger Str. 22, 81675 München; E-Mail: c.hausteiner@lrz.tum.de

Zusammenfassung Bestellung von Einzelbeiträgen KB Volltext

Hintergrund und Fragestellung: Der Begriff "Multiple Chemical Sensitivity (MCS)" beschreibt ein uneinheitliches Krankheitsbild beim Kontakt mit verschiedenen weitverbreiteten Chemikalien im Niedrigdosisbereich. Objektive Befunde fehlen ebenso wie Diagnosekriterien, sodass die Ätiologie des Syndroms umstritten ist. Wir befragten die deutsche Bevölkerung über körperliche Beschwerden, ihre Attribution auf bestimmte Auslöser, subjektive Chemikalienempfindlichkeit, die Diagnose MCS und Einstellungen zu so genannten Umweltgiften.

Methode: Es wurde eine repräsentative Befragung von 2032 erwachsenen Deutschen durchgeführt.

Ergebnisse: 11% der Befragten kannten den Begriff MCS; 0,5% gaben an, bei ihnen sei MCS schon einmal durch einen Arzt diagnostiziert worden, in beiden Fällen deutlich überdurchschnittlich Personen mit mehreren Beschwerden und Frauen. 9% bezeichneten sich selbst als empfindlich gegenüber Chemikalien. Obwohl insgesamt körperliche Beschwerden weit verbreitet waren, haben 67% der Betroffenen in der Gesamtstichprobe und 35% unter den subjektiv Chemikalienempfindlichen keinen den vorgeschlagenen Auslöser aus der Umwelt als ursächlich angesehen.

Folgerungen: Das zentrale Kriterium für MCS, die subjektive Empfindlichkeit gegenüber Chemikalien, ist – ähnlich wie in internationalen Untersuchungen – ein mäßig verbreitetes, aber unspezifisches Phänomen. Es muss von rund 300 000 Deutschen ausgegangen werden, bei denen die "Diagnose" MCS bereits durch einen Arzt gestellt wurde. In der Bevölkerung insgesamt ist das Syndrom relativ unbekannt.


http://scientificjournals.com/sj/ufp/abstract/ArtikelId/6983
Alex
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Offenbar MCS Häufigkeit stark unterschätzt

Beitragvon Alex » Donnerstag 19. April 2007, 00:00

Meine Anmerkung zu der eben eingestellten Studie:

Zitat: In der Bevölkerung insgesamt ist das Syndrom relativ unbekannt.

Sorgen wir dafür, das MCS bekannter wird und die Leute wissen was sie haben
und nicht weiter von Arzt zu Arzt rennen müssen und als deren Notnagel als psychisch krank
abgestempelt werden.
Alex
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MCS Häufigkeit bei Umweltpatienten in Deutschland

Beitragvon Lucca » Mittwoch 26. September 2007, 19:18

LOHMANN et al. werteten Arztbögen einer Praxis und einer Umweltklinik für 466 Patienten mit Verdacht auf neurotoxische Erkrankung aus. Bei 151 dieser Patienten bestand MCS, bei 90% von ihnen halten die Autoren eine Verursachung durch Umweltschadstoffe für wahrscheinlich oder möglich. Die MCS-Häufigkeit in dieser großen, stark ausgewählten Gruppe von Patienten mit Verdacht auf neurotoxische Erkrankung ist hiernach 33%, die Häufigkeit von Umweltexpositionen als wahrscheinlicher Ursache der MCS wäre 90%.

Literatur:
Lohmann K et al.: Vielfache Chemikalienunverträglichkeit (Multiple Chemical Sensitivity Disorder) bei Patienten mit neurotoxischen Gesundheitsstörungen. Gesundheitswesen 58 (1996) 322–331
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