Fortbildung
für den Öffentlichen Gesundheitsdienst 2005
ÖGD-Fortbildung 2005 - Seite 35f
"3.12 Umweltassoziierte Gesundheitsstörungen
Dr.
Dieter Eis
Robert Koch-Institut
Seit etwa 20 Jahren treten in Arztpraxen, Kliniken und in Einrichtungen des ÖGD immer wieder
Personen in Erscheinung, die ihre gesundheitlichen Beschwerden auf Umwelteinflüsse,
speziell auf Schadstoffe, zurückführen. Eine Bestätigung der Ursachen-Wirkungsvermutung
gelingt aus wissenschaftlich-medizinischer Sicht allerdings nur in seltenen Fällen. Demgegen
über wird in den öffentlichen Medien, von sogenannten Experten, manchen .Umweltärzten
., Heilpraktikern und diversen Untersuchungsanbietern oftmals der gegenteilige Eindruck
erweckt, so dass viele Patienten mit subjektiv umweltassoziierten Gesundheitsstörungen in
ihrem auf Umweltnoxen ausgerichteten Krankheitskonzept bestärkt werden. Sofern bei einem
Patienten bestimmte Fallkriterien erfüllt sind, spricht man gemeinhin von Multiple Chemical
Sensitivity (MCS), obwohl die von CULLEN und anderen Autoren vorgeschlagenen Kriterien
wissenschaftlich keineswegs ausreichend abgesichert sind. So wurden beispielsweise
die folgenden MCS-Fallkriterien vorgeschlagen:
Symptome im Zusammenhang mit einer dokumentierbaren Exposition erworben;
Symptomauslösung durch verschiedene Schadstoffe bei sehr niedriger Exposition;
die Störung betrifft mehr als ein Organsystem;
kein differentialdiagnostischer Ausschluss gegeben.
Da die トtiologie des MCS-Phänomens nicht näher bekannt ist, hat man die Bezeichnung
.MCS. verschiedentlich als unzutreffend kritisiert und die neutrale Bezeichnung .Idiopathic
Environmental Intolerances. (IEI) vorgeschlagen.
Bevölkerungsrepräsentative Prävalenzstudien zu IEI/MCS liegen nur in Form einfacher (oft
telefonischer) Umfragen vor. Hierbei wurde lediglich erfragt, ob bei den Probanden eine
Chemikalienunvertäglichkeit besteht. Die dabei ermittelten hohen Prozentsätze von etwa 15
bis nahezu 40 Prozent der Befragten geben daher keinen Anhalt für die Häufigkeit von MCS.
Die Prävalenz der von den Befragten selbstberichteten ärztlichen .MCS-Diagnosen. reicht
von 0,2-6 Prozent, wobei unklar ist, was sich im Einzelnen hinter einer derartigen Diagnose
verbirgt. Nach den in umweltmedizinischen Ambulanzen gemachten Erfahrungen, tritt MCS
im engeren Sinne nur sehr selten oder gar nicht in Erscheinung, während MCS im weiteren
Sinne, d.h. im Rahmen eines psychosomatischen Geschehens oder im Kontext mit medizinisch
unklaren Gesundheitsbeschwerden bei einem erheblichen Anteil der umweltmedizinischen
Patienten vorkommt.
Im Rahmen der MCS-Multicenterstudie des RKI wurden 291 Umweltambulanzpatienten aus
mehreren umweltmedizinischen Ambulanzen (Aachen, Berlin, Bredstedt, Freiburg, Gießen,
München) untersucht. Die Patienten waren im Mittel 48 Jahre alt, der Frauenanteil lag bei
knapp 70 Prozent. Die Datengewinnung erfolgte größtenteils im Jahr 2000 und im ersten
Halbjahr 2003. Da MCS-Einstufungen einem beträchtlichen Urteilereinfluss unterliegen, wurde
im Rahmen der Studie ein Scoringsystem zur formalen, computergestützten MCS-Fallcharakterisierung
entwickelt und eingesetzt. Bei 251 Patienten (86 Prozent der Gesamtstichprobe)
konnte zudem ein computergestütztes standardisiertes psychiatrisches Interview (CIDI)
durchgeführt werden. An einer Unterstichprobe von 205 Patienten wurden molekulargenetische
Untersuchungen zur .Suszeptibilität bei MCS. durchgeführt. Eine Teilstichprobe
von 47 Patienten unterzog sich einem standardisierten Riechtest (.Sniffin. Sticks.). Eine erg
änzende Pilotstudie zur Frage einer .neurogenen Entzündung bei MCS. konnte an einer
kleinen Unterstichprobe von 19 Patienten und einer ebenso großen Kontrollgruppe realisiert
werden.
Die hypothesengeleitete Datenauswertung ergab für das MCS-Phänomen kein charakteristisches
Symptommuster, keinen systematischen Zusammenhang zwischen geklagten Beschwerden
und angeschuldigten Noxen, keinen Hinweis auf eine besondere genetische Prä-
disposition der MCS-Patienten und keinen Beleg für eine eindeutige Störung des olfaktorischen
Systems oder eine neurogene Entzündung. Die standardisierte psychiatrische Diagnostik
(CIDI) ergab, dass Umweltambulanzpatienten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung
etwa doppelt so häufig unter psychischen Störungen leiden und dass diese bei den
meisten Patienten den umweltbezogenen Beschwerden weit vorausgehen."
http://www.bfr.bund.de/cm/235/fortbildungsveranstaltung_oegd_2005_abstracts.pdf