Aus aktuellem Anlass hier nochmal zum nachlesen:
"„Bisher gibt es keine
wirksame Therapie“
Experte Dieter Eis über Chemie und Psyche
Herr Eis, MCS ist ein schwer zu
fassendes Phänomen.
Ja, die Fallkriterien sind alle hochproblematisch.
JederDiagnostiker
wendet sieanders an.Wir habenin
unserer Studie mit verschiedenen
Umweltambulanzen gezeigt, dass
die Bredtstedter Kollegenmehr als
80 Prozent der betroffenen Patienten
als MCS-Kranke auswiesen,
während das in Berlin und Gießen
bei keinem einzigen Patienten der
Fall war. Die Aachener, Freiburger
und Münchener diagnostizierten
nur Einzel- oder unklare Fälle.
Was schließen Sie daraus?
Dass man das, was der Patient
selbst über seine eigene Belastung
und Erkrankung sagt, sehr unterschiedlich
bewerten kann.Manche
UmweltmedizinermessendenChemikalienangaben
der Patienten eine
hohe Glaubwürdigkeit zu und
setzen diagnostische Verfahren
ein, die von derwissenschaftlichen
Medizin nicht anerkannt sind. Es
sollteuns aber um die Frage gehen:
Was ist wirklich passiert?
Was denken Sie?
MCS ist keine Krankheit und kein
Syndrom im engeren Sinn. Man
findet beiP atienten, die sehr überzeugt
davon sind, dass Umweltgifte
sie krank machen, einen recht
hohen Prozentsatz an Somatisierungsstörungen.
Das heißt, das
sind häufig Leute, die ihre Körpervorgänge
sehr aufmerksam wahrnehmen
und glauben, die Ursachen würden in der Umwelt
liegen
–und zwar in Formv on Umweltgiften.
Außerdem zeigen viele dieser
Patienten hypochondrische Neigungen
und sind depressiv.
MCSi st Ihrer Auffassung nach also
ein psychisches Problem?
Man sollte da keine Schubladen
aufmachen. Psychische Beeinträchtigungen
gibt es bei den Patienten
jedoch häufig. Viele sagen
uns dann, die seien eine Folge von
MCS. Dafür haben wir in unserer
Studie aber keine Hinweise gefunden.
Wir haben uns einmal angeschaut,
seit wann es bei den einzelnen
Patienten psychische Probleme
gab, und wann die umweltbezogenen
Symptome anfingen: Da
kamen wir im Mittel auf einen Unterschied
von 17 Jahren. Das
heißt, die psychischen Probleme
lagen viel weiter zurück. Zusammengefasst:
Es gibt Indizien, die
weisen in eine Richtung, die eher
auf einer psychosomatischen Deutungsebene
liegt.
Naturwissenschaftlich können
Sie MCS nicht nachweisen?
Nein. Ein Beispiel: Wenn man im
Blut dieser Patienten den Gehalt
von Blei, Kadmium, Arsen, Polychlorierten
Biphenylen oder Pentachlorphenol
untersucht, findet
man keinen Unterschied zu den
Werten in der Allgemeinbevölkerung.
Auch beim Fremdstoffabbau
unterscheiden sich MCS-Patienten
nicht von Gesunden. Dies
alles spricht zumindest nicht für
erhöhte Fremdstoffbelastungen
bei Patienten.Wie es sich mit einer
besonderen Chemikalien-Überempfindlichkeit
verhält, bleibt
aber nach wie vor ungewiss.
Sie stochern ziemlich im Nebel?
Zu diesem Thema gibt es kein verbindliches Wissen
in der Medizin.
Das ist sehr stark von Wertungen
abhängig. Wir haben auch untersucht,
ob sich Symptommuster erkennen lassen,
die eine Art Cluster
bilden – aber da war nichts. Das
spricht gegen ein eigenständiges
Krankheitsbild. Das bedeutet aber
nicht, dass es nicht einen kleineren
Kreis von Patienten geben
könnte,der gegenüber Umwelteinflüssen
besonders empfindlich ist.
Aber messen können wir das
nicht. Es ist doch so, wenn Sie alle
Sinne auf Parfüm oder Abgase
richten,und diesen ein schädigendes Moment
zumessen, dann werden Sie
Körperreaktionen feststellen.
Das geht jedem von uns so.
Die meisten können umgehen mit
solchen Phänomenen.Wer sichals
MCS-krank empfindet, aber
nicht. Krankheit ist halt nicht nur
etwas, was im Körper passiert.
Ist Psychotherapie eine Lösung?
Ganz so einfach ist das nicht. Entscheidend
ist vielmehr, ob bei der
betroffenen Person überhaupt eine
psychische Störung vorliegt
und inwieweit die Bereitschaft zur
psychotherapeutischen Unterstützung
besteht. Psychotherapie
kann auch helfen, wenn jemand
sozial stark desintegriert ist und
die Fähigkeit,besser mit der Situation klarzukommen,
gestärkt werden soll.
Psychotherapieistaber sicher
kein Zaubermittel gegen
MCS. Leider können wir aus umweltmedizinischer
Sicht bisher
keine wissenschaftlich ausreichend
geprüfte und als wirksam
bestätigte Therapie anbieten.
Interview: Frauke Haß
Dieter Eis ist Leiter der Arbeitsgruppe
Umweltmedizin am Robert-
Koch-Institut in Berlin."
Dieses Interview erschien am 3. November2007 auf Seite 14 der Frankfurter Rundschau zusammen mit dem Artikel "Wenn Parfüm zur Ohnmacht führt".