Auszug aus Bayerisches Landesamt für Umweltschutz, PS 1 - Umweltberatung Bayern
Ulrike Koller, Nov. 2001
Psychosomatische Ursachen
Als (Mit-)Erklärungsmodell kommt auch ein psychosomatischer Ansatz in Frage. Einen Hintergrund dafür liefert die Stressforschung: Manche Menschen reagieren auf Stress mit körperlichen Reaktionen. Es wäre denkbar, dass auch eine einmalig hohe Schadstoffexposition dazu führen könnte, solche körperlichen "Stressreaktionen" zu entwickeln. Diese würden dann selbst bei niedrigsten Konzentrationen auftreten.
Eine weitere denkbare psychologische Erklärung bedient sich Erkenntnissen aus der Reflexforschung: Bei dem bekannten tierverhaltenstherapeutischen Experiment von Pawlow wurden durch geruchliche und geschmackliche Reizung Reflexe ausgelöst. Nach einer Phase der Gewöhnung reichten bereits neutrale Reize, die zusammen mit den Gerüchen angeboten wurden, aus, um denselben Reflex auszulösen. Dies würde erklären, warum Betroffene zum Teil auch ohne Anwesenheit der ihrer Ansicht nach ursächlichen Schadstoffe Reaktionen zeigen.
Alle genannten Hypothesen sind noch mit einer ganzen Reihe von Fragezeichen versehen, die der genauen Abklärung bedürfen. Dafür ist ein hoher diagnostischer Aufwand nötig, bei dem umfangreiche Patientenkollektive – ihr Einverständnis vorausgesetzt – sich groß angelegten Studien unterziehen müssten. Erst dann wird es vielleicht möglich sein, den Betroffenen, die häufig schon eine Odyssee an Diagnose- und Therapiemaßnahmen hinter sich gebracht haben, wirklich zu helfen.
Fehldiagnosen
Eine provokative These geht davon aus, dass zumindest ein Teil der als Umweltsyndrome definierten Krankheitsbilder auf Fehldiagnosen beruht, bei denen die wahren körperlichen oder psychischen Ursachen nicht erkannt wurden. Umweltbelastungen stünden nach diesem Modell in keinem Zusammenhang mit den Beschwerden.
Was kann die Umweltmedizin tun?
Die Umweltmedizin nimmt sich schon seit einigen Jahren verstärkt der Probleme von Patienten an, die nach subjektivem Empfinden unter umweltbezogenen Gesundheitsstörungen leiden. Ziel ist es, die Diskrepanz zwischen dem hohen Leidensdruck, unter dem Patienten mit Umweltsyndromen stehen, und dem Mangel an medizinisch-wissenschaftlicher Erklärbarkeit abzubauen. Besonders vielversprechend sind ganzheitliche Vorgehensweisen in Diagnostik und Therapie, in denen nicht nur rein physisch-körperliche, sondern auch psychologische Ursachen in Betracht gezogen werden. Nach festgestellter Beteiligung psychischer Aspekte bietet sich z.B. heute schon vielen Patienten die Möglichkeit, hilfreiche therapeutische Maßnahmen in Anspruch zu nehmen. Als Ersatz für Nichterklärbares darf die Psychologie jedoch nicht missbraucht werden. Dass dies immer noch vorkommt, zeigen oft geführte Diskussionen in Öffentlichkeit und Medien um die kompromisslose Frage, ob Umweltsyndrome denn nun körperlicher oder seelischer Natur seien.
In der klinischen Umweltmedizin existiert ein breites Untersuchungsspektrum, bestehend aus mehreren Bausteinen: Über Patienten-Fragebögen werden Symptome und individuelle Empfindlichkeiten abgeklärt und eine vermutete Exposition hinterfragt. In der nachfolgenden körperlichen Untersuchung und in Labortests werden mögliche organische Erkrankungen erkannt und – bei begründetem Verdacht weitere Analysen festgelegt. Bei vielen Patienten werden dabei zum Beispiel allergische Erkrankungen festgestellt.
In einer Ortsbegehung durch die oder den Umweltmediziner kann das Umfeld der Patienten nach möglichen Krankheitsauslösern durchforscht werden, um eine vermutete Belastung mit einem oder mehreren Schadstoffen im Wohn- oder Arbeitsbereich zu erfassen. Wenn es gelingt, eine verdächtige Belastung einzugrenzen, muss diese genau quantifiziert werden.
Patienten sollten sich in ihrem eigenen Interesse im Zuge der Diagnosestellung auch einer psychologischen Ansprache des Krankheitsbildes öffnen. Leider wurden Betroffene in der Vergangenheit häufig von Ärzten, ihrer Umgebung oder über Medien "psychiatrisiert" (Stichwort "Ökochonder") und verloren dadurch ihr Vertrauen in die Medizin.
Aber auch unabhängig von der Diskussion um Ursachen ist es eine wichtige Aufgabe der Umweltmedizin, die psychischen Auswirkungen der Umweltsyndrome ernst zu nehmen und einer Behandlung zuzuführen.
Aus der umweltmedizinischen Praxis liegen Schätzungen vor, dass nach Abschluss der Untersuchungen bei etwa fünf bis zehn Prozent der Patienten Zusammenhänge mit einer angenommenen Schadstoffbelastung möglich erscheinen. Studien an größeren Patientengruppen finden bei über 60 Prozent der Betroffenen psychiatrische und psychosomatische Störungen. Dies darf aber keinesfalls zu der voreiligen Schlussfolgerung führen, dass Umweltsyndrome ein hauptsächlich psychisches Phänomen sind. Psychische und psychosomatische Störungen können Ursache, aber auch Folge der Beschwerden sein.
Zusammenfassung
Umweltsyndrome haben in der öffentlichen Diskussion einen wichtigen Stellenwert bei der Frage, ob und wie Umweltfaktoren auf unsere Gesundheit wirken. Daher befasst sich die Umweltmedizin seit etwa 10 Jahren intensiv mit der Erforschung möglicher Ursachen. Nach bisherigem Kenntnisstand nimmt man an, dass die Ursachen für diese Krankheitsbilder nur in geringem Maße tatsächlich in Umweltbelastungen zu finden sind. Vielmehr kommt eine ganze Reihe anderer Faktoren in Frage, die Erklärungen bieten können.
Dank neuer diagnostischer und therapeutischer Ansätze eröffnen sich heute für Patienten, die oft einen langen Leidensweg hinter sich gebracht haben, neue Perspektiven. Sie gewinnen Zuversicht, ihre Krankheit in den Griff zu bekommen und lernen, die von Grund auf gestörte Beziehung zu ihrer Umwelt wieder in einem positiveren Licht zu sehen – eine Voraussetzung, um die Umwelt auch in all ihren gesundheitsförderlichen Aspekten annehmen zu können.
http://www.bayern.de/lfu/umwberat/data/archiv/usyndrom_2001.htm