Post von Amazone vom 06.02.2010, 18:22:41 im Thread viewtopic.php?t=12209
In Begutachtung somatoformer und funktioneller Störungen. Von Wolfgang Hausotter. Elsevier, Urban & Fischer, 2004
Seite 147 ff.
Zitat:
„10.3 Multiple Chemical Sensitivity
Das Krankheitsbild der „Vielfachen Chemikalienunverträglichkeit“ (VCU) bzw. der „Multiple Chemical Sensitivity“ (MCS), neuerdings als „Idiopathic Environmental Intolerances“ (IEI) bezeichnet, wird in den USA wie folgt definiert: Multiple Chemical Sensitivity: „Eine erworbene Störung, die charakterisiert ist durch multiple rezidivierende Symptome, vorzugsweise an mehreren Organsystemen, die als Antwort auf nachweisbare Expositionen gegenüber vielen chemisch miteinander nicht verwandten Stoffen bei Dosen auftreten, die weit unter denen liegen, die in der allgemeinen Bevölkerung für schädigend gehalten werden. Kein einziger allgemein akzeptierter Test von physiologischen Funktionen kann nachgewiesen werden, der mit diesen Symptomen korreliert.“ (Runow 1994, S. 207)
Andere Bezeichnungen sind Toxikophobie und Chemophobie. Der Terminus „20th Century Disease“ weist das Leiden als zeittypische Erkrankung aus (Csef).
Eine andere Krankheitsbeschreibung geht von einer erworbenen Störung mit multiplen rezidivierenden Symptomen aus, die in Zusammenhang mit Umwelteinflüssen gesehen wrden, von der Mehrheit der Bevölkerung problemlos vertragen werden und die durch keine bekannte medizinische oder psychische Störung erklärbar sind (Workshop der WHO 1997).
Klinik
Die Überempfindlichkeit erstreckt sich auf geringste Konzentrationen unterschiedlichster Chemikalien , die in Nahrungsmitteln, Konservierungsmitteln, Insektiziden, Lösungsmitteln, Farben, Duftstoffen, Kosmetika, Textilien, Möbeln, Tapeten, Fußbodenbelägen und vielen anderen alltäglichen Dingen enthalten sind. Bei minimalen Schwellenwerten dieser Substanzen sollen sich z. T. dramatische Symptome zeigen, ohne dass irgendein fassbarer Untersuchungsbefund vorliegt.
Frauen sollen 2-3-mal häufiger erkranken als Männer.
Subjektiv stehen ausgesprochen vielfältige und unspezifische Befindlichkeitsstörungen im Vordergrund: Kopfschmerzen, Schwindel, Augenbrennen, Konzentrationsstörungen, Benommenheit, Depressionen, Geruchsüberempfindlichkeit, Schlafstörungen, Gelenkschmerzen, Reizbarkeit, Müdigkeit, Reizblase, Verdauungsbeschwerden mit Völlegefühl und Blähungen sind nur ein Teil der geklagten Beschwerden.
Objektive Diagnosekriterien existieren nicht.
Es besteht eine ausgeprägte Komorbidität mit psychiatrischen Erkrankungen. Bei der überwiegenden Mehrzahl der Betroffenen liegen psychische Störungen ganz unterschiedlicher Art vor. Neben psychotischen Erkrankungen mit umweltbezogenen Wahnsystemen werden Dysthymien, Persönlichkeitsstörungen, Angststörungen, somatoforme Störungen, aber auch eine Vielzahl anderer psychischer Krankheitsbilder gesehen.
Gemeinsam ist den MCS-Kranken die enorme Abneigung gegen Psychiater und Psychotherapeuten, worin sie meist durch umweltmedizinisch orientierte Ärzte und Selbsthilfegruppen unterstützt werden.
Ein rein somatisches Krankheitsmodell im Sinne einer „Vergiftung und Immunschwäche“ wird nachdrücklich propagiert, verbaut aber meist den Zugang zu einer wie auch immer gearteten adäquaten Behandlung. Im somatischen Bereich ist eine solche jedenfalls in sinnvoller Form nicht möglich.
Theorien zur Krankheitsentstehung
Es gibt weder allgemein anerkannte Theorien zu den Krankheitsmechanismen noch valide Kriterien für die klinische Diagnostik. Auf die Unsicherheit der Diagnosestellung verwies auch eine Antwort der Bundesregierung auf eine „Kleine Anfrage“ verschiedener Abgeordneter zu diesem Thema.
Nach Vorstellung der klinischen Ökologie (Reichl 2000) manifestiert sich die MCS als Ausdruck der Überladung des Organismus mit Umweltnoxen. Körpereigene Abwehr- und Regulationsmechanismen sollen dabei überfordert sein. Der Nachweis einer organischen Genese steht jedoch bislang aus. Andere Hypothesen gehen von zugrunde liegenden psychiatrischen Erkrankungen aus oder von einem Glaubenssystem im Sinne einer netzwerkartigen „medizinischen Subkultur“ mit gegenseitiger Verstärkung der gleichgesinnten Anhänger.
Eine rechtlich oder medizinisch gesicherte Kausalität hinsichtlich der Entstehung des Beschwerdebildes mit daraus ableitbaren finanziellen Forderungen existiert nicht.
Als eigenständige Krankheit wird die MCS in den USA und von der WHO nicht gewertet.
Probleme bei der Begutachtung
Das Paradigma ist hier die Annahme, dass MCS-Kranke schon auf Spuren zahlloser Umweltgifte mit entsprechenden Symptomen reagieren, ohne dass ein entsprechender Nachweis gelingt. Die klassischen Gesetze der Toxikologie werden von dem MCS-Phänomen nach Altenkirch (1995, 1997, 1998) außer Kraft gesetzt.
Zudem erfolgt die „Diagnosestellung“ nicht selten mit Methoden wie der Elektroakupunktur nach Voll, Bioresonanz oder ähnlichen Verfahren. Außerdem muss darauf hingewiesen werden, dass zur Diagnostik immunologische Parameter von geringem Wert sind, da sich der Funktionszustand des Immunsystems ständig ändert. Sie sind damit für die Gesamtfunktion dieses Systems wenig aussagekräftig .
Falls keine Komorbidität der MCS mit einer relevanten seelischen Störung vorliegt, lässt sich eine Leistungsminderung im Erwerbsleben nicht ableiten.
Allerdings existieren Privatkliniken, die – umweltorientiert – nicht selten die Vorstellungen der Patienten hinsichtlich einer organischen Genese, eben einer chronischen Intoxikation und einer postulierten „Immunschwäche“, noch unterstützen und seelische Faktoren ablehnen und damit das Beschwerdebild nur noch weiter perpetuieren.“
Zitat Ende
Quelle:
Der Link zum Buch:
http://books.google.com/books?id=Qh9kFpxae8oC&pg=PA68&dq=Arbeitsgemeinschaft+\\\"neurologische+Begutachtung\\\"&lr=&hl=de&sig=K1zSRSvzvQfoFe0IZmnLFHqCfMc#PPA148,M1 <http://books.google.com/books?id=Qh9kFpxae8oC&pg=PA68&dq=Arbeitsgemeinschaft+%22neurologische+Begutachtung%22&lr=&hl=de&sig=K1zSRSvzvQfoFe0IZmnLFHqCfMc#PPA148,M1>
- Editiert von Maria Magdalena am 12.02.2010, 04:16 -