Rudolf - die Psyche muß für alles herhalten

Vorteile und Risiken der Klassifikation
Den ganzen Vortrag will ich Euch ersparen, weil ich ein Menschenfreund bin.
Der Anfang und der Teil über MCS reicht zum Erreichen der Schmerzgrenze.
Wer zu hochpathologischem Masochismus neigt, kann hier alles lesen: http://www.lptw.de/vortraege2002/g_rudolf.html
Prof.Dr.med. Gerd Rudolf
Ärztl. Direktor d. Psychosomatischen Universitätsklinik, Heidelberg
Vortrag am 22. April 2002 bei den 52. Lindauer Psychotherapiewochen
Psychotherapeutische Bedenken gegenüber Diagnostik und Klassifikation
In dieser Woche sollen die Begriffe Krankheit bzw. Störung im Mittelpunkt stehen und so beginnen wir heute gewissermaßen mit dem Inhaltsverzeichnis möglicher Krankheiten, d.h. mit den diagnostischen Klassifikationssystemen.
Klassifikationssysteme sind Ordnungssysteme für Phänomene, seien es Pflanzen, Tiere, Menschen, Krankheiten oder was auch immer. Sie sind immer dort nützlich, wo wir in einem unübersichtlichen Feld eine Orientierung benötigen. Das klingt in seiner Ordentlichkeit uneingeschränkt positiv, aber wir werden rasch sehen, dass es stets auch Gründe gibt, sich kritisch mit den jeweiligen Ordnungsvorschlägen auseinander zu setzen. Psychotherapeuten haben einen besonders skeptisches Verhältnis zu diagnostischen Klassifikationen, so dass es sich lohnt, diese Skepsis genauer zu untersuchen. Bekanntermaßen gehört es nicht zu den festen Überzeugungen von Psychotherapeuten, dass die Dinge klar sind und ihre eindeutige Ordnung haben. Ihre Erfahrung lehrt vielmehr: Die Dinge sind häufig nicht, was sie scheinen; es steckt oft etwas Anderes dahinter – Der Aspekt der Kontextualität. Die Dinge bleiben nicht, was sie sind; sie befinden sich in stetiger Veränderung – der Aspekt der Prozessualität. Diese Sicht der Dinge mahnt zur Vorsicht im Umgang mit vermeintlichen Realitäten, ihrer Zuordnung und vor allem ihrer Bewertung.
...Die Dinge beim Namen zu nennen, bedeutet Macht nicht nur im Märchen, sondern auch in der Wissenschaft. Das Ordnen und Klassifizieren steht seit jeher unter dem Verdacht, bemächtigende Ziele zu verfolgen. Savoir pour prévoir, prévoir pour regler lautet die positivistische Grundformel. Die Dinge müssen überschaut und geordnet werden, damit man über sie verfügen kann.
MCS TEIL>
...Werfen wir bei dieser Gelegenheit einen Blick auf die Klassifikation von somatischen Krankheiten, so wird deutlich, dass diese auf Organsysteme bezogen sind, d.h.: klassifikatorische Ordnung in der Medizin ist Sache der Fachgebiete. Die Orthopädie organisiert den Menschen anders als die Gynäkologie usw. Das funktioniert, aber Schwierigkeiten entstehen bei solchen Störungen, die sich nicht strikt auf die Muskeln und Bändern der Orthopädie oder auf die inneren Fortpflanzungsorgane der Gynäkologie beziehen lassen, sondern die interdisziplinär gesehen werden müssen. Nehmen wir eine erschöpfte Patientin mit anhaltenden Schmerzen ohne organische Grundlage, dann könnte eine solche somatoforme Schmerzpatientin medizinisch je nach dem Organ, auf das sie hinweist und je nach der Fachdisziplin, an die sie sich wendet, ganz unterschiedlich diagnostisch klassifiziert werden: als Spannungskopfschmerzen in der Neurologie, als atypischer Gesichtsschmerz in der Zahnheilkunde, als Fibromyalgie in der Rheumatologie, als atypischer Brustschmerz in der Kardiologie, als Pelvipathie in der Gynäkologie, als chronischer Rückenschmerzen in der Orthopädie, als abakterielle Prostatitis in der Urologie, als MCS in der Allergologie, als CFS in der Infektiologie – und jede dieser Störungen möglicherweise als anhaltende somatoforme Schmerzstörung in der psychosomatischen Medizin.
Das wäre vielleicht nur merkwürdig, wenn nicht jede der Diagnosen weitreichende therapeutische Konsequenzen hätte, die von Medikation bis Operation variieren können.
Den ganzen Vortrag will ich Euch ersparen, weil ich ein Menschenfreund bin.
Der Anfang und der Teil über MCS reicht zum Erreichen der Schmerzgrenze.
Wer zu hochpathologischem Masochismus neigt, kann hier alles lesen: http://www.lptw.de/vortraege2002/g_rudolf.html
Prof.Dr.med. Gerd Rudolf
Ärztl. Direktor d. Psychosomatischen Universitätsklinik, Heidelberg
Vortrag am 22. April 2002 bei den 52. Lindauer Psychotherapiewochen
Psychotherapeutische Bedenken gegenüber Diagnostik und Klassifikation
In dieser Woche sollen die Begriffe Krankheit bzw. Störung im Mittelpunkt stehen und so beginnen wir heute gewissermaßen mit dem Inhaltsverzeichnis möglicher Krankheiten, d.h. mit den diagnostischen Klassifikationssystemen.
Klassifikationssysteme sind Ordnungssysteme für Phänomene, seien es Pflanzen, Tiere, Menschen, Krankheiten oder was auch immer. Sie sind immer dort nützlich, wo wir in einem unübersichtlichen Feld eine Orientierung benötigen. Das klingt in seiner Ordentlichkeit uneingeschränkt positiv, aber wir werden rasch sehen, dass es stets auch Gründe gibt, sich kritisch mit den jeweiligen Ordnungsvorschlägen auseinander zu setzen. Psychotherapeuten haben einen besonders skeptisches Verhältnis zu diagnostischen Klassifikationen, so dass es sich lohnt, diese Skepsis genauer zu untersuchen. Bekanntermaßen gehört es nicht zu den festen Überzeugungen von Psychotherapeuten, dass die Dinge klar sind und ihre eindeutige Ordnung haben. Ihre Erfahrung lehrt vielmehr: Die Dinge sind häufig nicht, was sie scheinen; es steckt oft etwas Anderes dahinter – Der Aspekt der Kontextualität. Die Dinge bleiben nicht, was sie sind; sie befinden sich in stetiger Veränderung – der Aspekt der Prozessualität. Diese Sicht der Dinge mahnt zur Vorsicht im Umgang mit vermeintlichen Realitäten, ihrer Zuordnung und vor allem ihrer Bewertung.
...Die Dinge beim Namen zu nennen, bedeutet Macht nicht nur im Märchen, sondern auch in der Wissenschaft. Das Ordnen und Klassifizieren steht seit jeher unter dem Verdacht, bemächtigende Ziele zu verfolgen. Savoir pour prévoir, prévoir pour regler lautet die positivistische Grundformel. Die Dinge müssen überschaut und geordnet werden, damit man über sie verfügen kann.
MCS TEIL>
...Werfen wir bei dieser Gelegenheit einen Blick auf die Klassifikation von somatischen Krankheiten, so wird deutlich, dass diese auf Organsysteme bezogen sind, d.h.: klassifikatorische Ordnung in der Medizin ist Sache der Fachgebiete. Die Orthopädie organisiert den Menschen anders als die Gynäkologie usw. Das funktioniert, aber Schwierigkeiten entstehen bei solchen Störungen, die sich nicht strikt auf die Muskeln und Bändern der Orthopädie oder auf die inneren Fortpflanzungsorgane der Gynäkologie beziehen lassen, sondern die interdisziplinär gesehen werden müssen. Nehmen wir eine erschöpfte Patientin mit anhaltenden Schmerzen ohne organische Grundlage, dann könnte eine solche somatoforme Schmerzpatientin medizinisch je nach dem Organ, auf das sie hinweist und je nach der Fachdisziplin, an die sie sich wendet, ganz unterschiedlich diagnostisch klassifiziert werden: als Spannungskopfschmerzen in der Neurologie, als atypischer Gesichtsschmerz in der Zahnheilkunde, als Fibromyalgie in der Rheumatologie, als atypischer Brustschmerz in der Kardiologie, als Pelvipathie in der Gynäkologie, als chronischer Rückenschmerzen in der Orthopädie, als abakterielle Prostatitis in der Urologie, als MCS in der Allergologie, als CFS in der Infektiologie – und jede dieser Störungen möglicherweise als anhaltende somatoforme Schmerzstörung in der psychosomatischen Medizin.
Das wäre vielleicht nur merkwürdig, wenn nicht jede der Diagnosen weitreichende therapeutische Konsequenzen hätte, die von Medikation bis Operation variieren können.