Heidelberger Gespräch
6. und 7. Oktober 2010
Multiple Chemische Sensibilität
- aus epidemiologischer Sicht
D. Eis, Berlin
Mit dem Begriff „Multiple Chemikaliensensitivität“ (Multiple Chemical Sensitivity, MCS) bezeichnet man
eine chronische, symptomatisch unspezifische Gesundheitsstörung, die von den betroffenen
Personen mit der Einwirkung von Umweltschadstoffen/-faktoren in Verbindung gebracht wird, wobei
nach subjektivem Empfinden unterschiedlichste Agenzien symptomauslösend wirken und die jeweilige
Exposition gering ist, sodass andere Personen dadurch in der Regel nicht gesundheitlich
beeinträchtigt werden. Die Beschwerden bessern sich bei Expositionskarenz. Teilweise wird der
Erkrankungsbeginn mit einer erhöhten, oft beruflichen Schadstoffexposition in Zusammenhang
gebracht. Im Laufe der Zeit haben die Patienten das Empfinden, auf immer mehr Chemikalien (teils
auch auf andere Einflüsse, wie elektromagnetische Felder) bei immer niedrigeren Konzentrationen zu
reagieren. Als Auslöser gelten u. a. Innenraumschadstoffe, wie Lösemitteldämpfe, Tabakrauch,
Parfüm- und Deogerüche, frische Druckerzeignisse, Kraftfahrzeugemissionen oder
Waschmittelrückstände in der Kleidung. Neben der Vielfalt der Auslöser wird meist auch eine Vielzahl
von (in der Bevölkerung weit verbreiteten) Beschwerden angegeben. Ein charakteristisches
Beschwerdenbild ist nicht beschrieben. Das Leiden lässt sich nicht durch anerkannte Untersuchungen
oder bestimmte pathologische Befunde bestätigen. Da die Ätiologie des MCS-Phänomens nicht
näher bekannt ist, wird mitunter die neutrale Bezeichnung „Idiopathic Environmental Intolerances“ (IEI)
bevorzugt. IEI/MCS trat bisher hauptsächlich in Nordamerika, Mittel- und Nordeuropa, Australien und
Japan in Erscheinung.
Es existieren etliche Falldefinitionen, die sich aber untereinander – nicht zuletzt aufgrund der
defizitären theoretischen und empirischen Grundlage – zum Teil erheblich unterscheiden. Die
einzelnen Definitionskriterien sind meist uneindeutig formuliert, sodass bei ihrer Anwendung ein
beträchtlicher Ermessenspielraum bleibt. Damit können sich von Studie zu Studie (und selbst
zwischen den einzelnen Untersuchern) erhebliche diagnostische Diskrepanzen ergeben, was sich
wiederum auf Inzidenz- wie Prävalenzschätzungen sowie in Fall-Kontroll-Studien auf die
Zusammensetzung der Fallgruppen auswirkt. Bevölkerungsrepräsentative Prävalenzstudien zu
IEI/MCS liegen nur in Form einfacher, meist telefonischer Umfragen vor, die sich auf wenige Fragen
zur „Chemikalienunverträglichkeit“ stützen (15 % bis nahezu 40 % der Befragten geben dabei an, auf
Chemikalien besonders empfindlich zu reagieren); über ärztliche „MCS-Diagnosen“ berichten 0,2–6 %
der Befragten. Nach den in umweltmedizinischen Ambulanzen gemachten Erfahrungen, tritt MCS im
engeren Sinne (selbst unter Umweltambulanz-Patienten) nur sehr selten, wenn überhaupt in
Erscheinung, während MCS im weiteren Sinne, d.h. im Rahmen eines sozio-psycho-somatischen
Geschehens und im Kontext mit medizinisch unklaren Gesundheitsbeschwerden (umweltbezogenen
Körperbeschwerden) bei einem erheblichen Teil der Umweltambulanz-Patienten beschrieben wird. Ein
einheitliches, kohärentes Symptommuster ist bisher für MCS nicht erkennbar. Den Ergebnissen
zahlreicher Studien zufolge, lassen die MCS-Patienten deutlich häufiger als die Probanden/Patienten
der jeweiligen Kontrollgruppen psychosomatische oder psychiatrische Störungen erkennen, wobei die
psychischen Beeinträchtigungen meist schon vor der MCS-Problematik bestanden hatten. Im Vortrag
wird u.a. auf die Ergebnisse der MCS-Verbundstudie des RKI eingegangen. Die in vielfältiger
Ausformung existierenden (meist hochspekulativen) biomedizinischen Pathogenesemodelle ließen
sich in den bisherigen MCS-Studien nicht hinreichend bestätigen. Komplexere psychosomatische
Modellvorstellungen werden mittlerweile favorisiert (s. Vortrag Prof. Henningsen).
Multiple Chemische Sensibilität Seite 6
http://www.medsach.de/Gentner.dll/gesamt-abstracts-2010_MzAwMzIw.PDF?UID=00310FB275B5D7442A5F6F6BD379E60163E88047C4947864