Viele Studien, wie auch die von den Autoren zitierte Arbeit von H.Remmer, zeigen äußerst unterschiedliche Symptomprofile jener Patienten,die an „umweltbezogenen Syndromen“ leiden. Die MCS-Patienten im engeren Sinne (mit Atemschutzmasken,elaborierte MCS-Theorie) sind möglicherweise Spätstadien und Sonderformen solcher Patienten mit „umweltbezogenen funktionellen Syndromen“,
einer allgemeineren deskriptivdiagnostischen Kategorie, die ich zur Entemotionalisierung der Debatte vorschlage (2). Bisher kann man nicht auf stringente Definitionskriterien und differentialdiagnostische Kriterien zurückgreifen, wenn es um MCS geht. Die Akteure im klinisch-umweltmedizinischen Bereich sind sich daher nicht sicher, ob sie wirklich über den gleichen Patientenkreis sprechen (1).
Für einen direkten Nozeboeffekt analog dem Plazeboeffekt sind polysymptomatische Beschwerden nicht gut belegt. Es ist auch noch nicht empirisch geklärt, wer diese symptominduzierende suggestive Person (der Arzt für Naturheilkunde?) bei MCS Patienten
definitiv ist. Außerdem: Viele MCS-Patienten haben erst die Symptome und dann die Interpretation. Diese Hypothese benötigt daher
mehr empirische Fundierung. Die Bedeutung der Geruchssensibilität oder ihre Veränderung ist bei MCS nicht so häufig und vor allem kein zentrales Symptom und dann auch passager. Daß manche der von Bock und Birbaumer zitierten Fachautoren meinen,
daß „psychologische und psychiatrische Ursachen vorherrschend“ sind, ist nicht ganz berechtigt, da es zu Ursachenfragen hier nur Indizien gibt (psychiatrische Anamnese, Auffälligkeiten bei Persönlichkeitsinventaren und anderes), aber keinen Nachweis
im engeren Sinn; solche Aussagen sind also nur Hypothesen. Das Konzept einer „Übertragung psychischer Probleme auf Umweltchemikalien“ ist schließlich schwer belegbar (psychodynamische Interpretation). Ob eine psychologische Ätiologie
bei toxikologisch negativen Befunden „wahrscheinlich ist“, ist nach wie vor umstritten. Es gibt auch sonst noch andere, sozusagen „kryptogene Erkrankungen“, beispielsweise Multiple Sklerose oder Schizophrenie,mit ähnlich heterogenen und relativ
schwach fundierten Theorie- und Therapiekonzepten. In vielen Studien wurden weder Medieneinflüsse, Suggestibilität, Struktur
des Umfelds, allgemeine Weltbilder, allgemeine Krankheitstheorien,(sekundär) neurotisierende Effekte der Krankheitskarriere systematisch untersucht. Hier besteht Forschungsbedarf,es ist noch keine psychosoziale Ursachentheorie gesichert. Die zitierte
Nancy Fiedler ist da wesentlich zurückhaltender in ihrer Bewertung der Psychogenese von MCS. Die von Herrn Birbaumer vorgeschlagene multiaxiale Betrachtung („Verhaltensanalyse“) müßte zunächst in Studien untersucht werden. Die Anzahl der angeführten Variablen stellt sogar bei einer im oben genannten Kreise diskutierten bundesweiten Multicenterstudie in Frage, ob
genug Patienten rekrutiert werden können, zumal MCS-Patienten der Meinung sind, daß die Schulmedizin die Psychiatrisierung betreibt. Aus praktischer Erfahrung heraus ist festzustellen, daß die Empfehlung,die systematische Desensibilisierung
durchzuführen, sich bei den häufig gegebenen generalisierten Chemikalienphobien extrem schwierig gestaltet. Eine allgemeine (auch
autosuggestive) Entspannungstechnik ist da häufig erfolgreicher. Wie tatsächlich ein „mit MCS unvereinbares Verhalten aufgebaut werden kann“, bleibt zu demonstrieren. Sicher: Die verhaltenstherapeutische Ausrichtung ist am aussichtsreichsten,
aber hier müßten Praxiserfahrungen sorgfältig zusammengetragen werden. Meiner Erfahrung nach sind zunächst gesprächspsychotherapeutische Techniken sinnvoll und Entspannungstechniken (lernen, mit der Krankheit umzugehen). Kognitive
Umstrukturierungen können erst im Laufe der Zeit langsam angesetzt werden. Die Kritik am MCS-Konzept ist dabei erfahrungsgemäß kontraproduktiv,besser ist es, die eigene Kritikfähigkeit des Patienten zu fördern. Die von Herrn Birbaumer vorgeschlagene
„Verordnung einer verhaltensmedizinischen Behandlung“ wird von MCS-Patienten mit ihrer Skepsis gegenüber der Schulmedizin
nicht akzeptiert.
Literatur
1 Eis D, Altenkirch H, Beyer A, Eikmann Th,
Herr C, Heinzow B, Hüppe M, Nix WA, Kobal
G, Paulini I, Pitten FA, Ring J, Roscher
S, Suchenwirth R, Tretter F, Wolf Ch: Methodische
Ansätze und Verfahren zur MCSDiagnostik:
Diagnosekriterien und Studiendesign.
Umweltmed Forsch Prax 1997; 2:148–156.
2 Tretter F: Umweltbezogene funktionelle
Syndrome. Internist Praxis 1996; 36:
669–686.
Dr. Dr. Dr. F. Tretter
Bezirkskrankenhaus
85529 Haar/München
Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 28–29, 13. Juli 1998 (51)
DISKUSSION
Subjektives Erleben berücksichtigen