"Es gibt diese Patienten - und sie leiden! "

"UMWELTASSOZIIERTE SYNDROME AM BEISPIEL DER MULTIPLEN CHEMIKALEN-EMPFINDLICHKEIT (MCS)
Umwelt-bezogene Beschwerdebilder gab es seit jeher (z. B. die frühere Chlorose, von der heute niemand mehr spricht). Der Bezug zur Umwelt ist vor allem durch die individuelle Sichtweise des Patienten gegeben, daher der Begriff "umwelt-assoziiertes Syndrom". Am häufigsten finden sich derzeit die Multiple Chemikalien-Empfindlichkeit (MCS), das Chronische Müdigkeits-Syndrom (CFS), die Fibromyalgie sowie das Sick-Building-Syndrom. Gelegentlich damit in Verbindung gebracht auch das Burn out-Syndrom.
- Bei der Multiplen Chemikalien-Empfindlichkeit (MCS) fühlen sich die Betroffenen von Gerüchen und anderen Innenraumluft-Komponenten beeinträchtigt, z. B. in Kaufhäusern, aber auch zu Hause oder am Arbeitsplatz. Dabei berichten sie über Befindlichkeits- und Gesundheitsstörungen, während andere im gleichen Umfeld keine Besonderheiten registrieren. Das Phänomen hat viele Dimensionen und wird deshalb auch kontrovers diskutiert. Die einen wollen dabei konkrete Chemikalien-Expositionen und ihre nachweisbaren (?) Konsequenzen berücksichtigt sehen, die anderen sprechen von Befindlichkeitsstörungen, wie sie ohnehin in der Bevölkerung am häufigsten anzutreffen sind.
Bisher sind folgende Klassifikations-Vorschläge gemacht worden:
Beschwerdebilder, die durch (wiederholte chemische) Exposition reproduzierbar folgende Krankheitszeichen auslösen:
- neurologische Symptome wie Müdigkeit, Kopfschmerzen, Schwindel, Konzentrations- und Schlafstörungen,
- seelische Symptome wie Reizbarkeit, Depressionen, Angst, Verwirrtheit und Gedächtnisstörungen,
- Haut- und Schleimhautsymptome wie Juckreiz, Hautbrennen, Augenreizungen und Husten sowie
- allgemeine Beschwerden wie Durchfall, Verstopfung, Übelkeit, Herzschmerzen, Angst- und Beklemmungsgefühle, Atemnot und grippale Beschwerden.
Das Beschwerdebild muss chronisch (dauerhaft) sein und die Symptome sollen durch schon geringe Konzentrationen der entsprechenden Agenzien ausgelöst werden (was bei anderen Menschen keinerlei Reaktionen auszulösen pflegt). Beispiele: Industrie-Chemikalien, Nahrungsmittel-Additive, Pestizide, Arzneimittel, Innenraum-Luftschadstoffe, Lösungsmittel, Alkohole, Parfum, Kosmetika, Kleidung, Plastik, Chlor, Amalgam, Kfz-Abgase, Ozon, Benzin, ionisierende und elektromagnetische Strahlen.
Wird der (subjektive oder objektivierbare) Schädigungs-Bereich gemieden, kommt es zur Besserung oder vollständigen Genesung.
Man schätzt, dass die Multiple Chemikalien-Empfindlichkeit (MCS) etwa 0,2 bis 4% der Erwachsenen betrifft. Auf Deutschland bezogen wären das etwa 300.000 Personen.
Die Ursachen und Hintergründe sind ein weites Feld. Beispiele: unentdeckte traditionelle Krankheiten (Vergiftungen, Immundefekte), eine allgemeine vegetativ-nervöse Übererregbarkeit, die Fehlverarbeitung traumatischer Erlebnisse, seelische Störungen mit hypochondrischen, hysterischen und zwanghaft-phobischen Zügen, psychosomatische Störungen, chronische Vergiftungen durch Lösungsmittel, Pestizide u. a. Ferner Hormon- und Stoffwechselstörungen, Reizung der Atemwege mit entsprechender Immun-Reaktion, Fehlregulation nervlich ausgelöster Entzündungen, Rückwirkung auf das Zentrale Nervensystem, Fehlregulation des Abwehrsystems, die Erhöhung der Erregbarkeit bestimmter Gehirnzentren (z. B das limbische System) u. a.
Die Wissenschaftler, die sich damit beschäftigen, favorisieren unterschiedliche Organ-Systeme vom Metabolismus (Stoffwechsel) bis zu neurohormonellen Veränderungen im Gehirn. Die bisher vorliegenden wenigen kontrollierten Studien mit MCS-Patienten zeigen aber auch, dass die meisten in den entsprechenden Untersuchungen nicht (!) zwischen Placebo-Exposition und Noxen-Exposition unterscheiden können, d. h. ob nur eine harmlose Schein-Belastung oder eine echte Belastung vorliegt. Ob ein genetischer Hintergrund existiert ist bisher fraglich (Empfindlichkeits-Vererbung, entweder real-organisch oder rein seelisch als eingebildete Überempfindlichkeit).
Die in Deutschland gesammelten MCS-Fälle gehen meist auf Schadstoffe in der Wohnung, auf Nahrungsmittel bzw. Nahrungsmittel-Rückstände, auf Schadstoffe im Wohnungsumfeld und am Arbeitsplatz zurück sowie auf Medikamente, Dental-Materialien (die vom Zahnarzt verwendet werden) sowie Trinkwasser.
Wenn man MCS-Patienten psychologisch untersucht, dann gibt es schon Unterschiede zum Gesunden, besonders in den Bereichen Somatisierung ("Verkörperlichung von unverarbeiteten seelischen und psychosozialen Problemen"), Zwanghaftigkeit, Depressivität und Ängstlichkeit.
Andererseits aber müssen alle damit befassten Ärzte zugeben: Es gibt diese Patienten - und sie leiden! Sie sind aber auch eine schwierige Klientel, denn wenn sie einmal auf ihre (subjektive Laien-)Diagnose fixiert sind, wird die Situation bald ausweglos, da sich bedrohliche Stoffe tagtäglich und überall auftun.
So geraten viele dieser Patienten in eine bedauernswerte soziale Isolation, verlieren ihren Arbeitsplatz und bringen ihre zwischenmenschlichen, vor allem partnerschaftlichen und familiären Beziehungen in Gefahr.
Deshalb gibt es inzwischen Selbsthilfegruppen und als Einzel-Behandlung vor allem die Verhaltenstherapie.
Zusammenfassende Übersicht aus H.-J. Seidel: Klinische Umweltmedizin, 2005"
http://www.psychosoziale-gesundheit.net/bb/06umweltmedizin.html
H.-J. Seidel:
KLINISCHE UMWELTMEDIZIN
Kurzlehrbuch für angehende und praktizierende Ärzte
Shaker-Verlag, Aachen 2005.
Umwelt-bezogene Beschwerdebilder gab es seit jeher (z. B. die frühere Chlorose, von der heute niemand mehr spricht). Der Bezug zur Umwelt ist vor allem durch die individuelle Sichtweise des Patienten gegeben, daher der Begriff "umwelt-assoziiertes Syndrom". Am häufigsten finden sich derzeit die Multiple Chemikalien-Empfindlichkeit (MCS), das Chronische Müdigkeits-Syndrom (CFS), die Fibromyalgie sowie das Sick-Building-Syndrom. Gelegentlich damit in Verbindung gebracht auch das Burn out-Syndrom.
- Bei der Multiplen Chemikalien-Empfindlichkeit (MCS) fühlen sich die Betroffenen von Gerüchen und anderen Innenraumluft-Komponenten beeinträchtigt, z. B. in Kaufhäusern, aber auch zu Hause oder am Arbeitsplatz. Dabei berichten sie über Befindlichkeits- und Gesundheitsstörungen, während andere im gleichen Umfeld keine Besonderheiten registrieren. Das Phänomen hat viele Dimensionen und wird deshalb auch kontrovers diskutiert. Die einen wollen dabei konkrete Chemikalien-Expositionen und ihre nachweisbaren (?) Konsequenzen berücksichtigt sehen, die anderen sprechen von Befindlichkeitsstörungen, wie sie ohnehin in der Bevölkerung am häufigsten anzutreffen sind.
Bisher sind folgende Klassifikations-Vorschläge gemacht worden:
Beschwerdebilder, die durch (wiederholte chemische) Exposition reproduzierbar folgende Krankheitszeichen auslösen:
- neurologische Symptome wie Müdigkeit, Kopfschmerzen, Schwindel, Konzentrations- und Schlafstörungen,
- seelische Symptome wie Reizbarkeit, Depressionen, Angst, Verwirrtheit und Gedächtnisstörungen,
- Haut- und Schleimhautsymptome wie Juckreiz, Hautbrennen, Augenreizungen und Husten sowie
- allgemeine Beschwerden wie Durchfall, Verstopfung, Übelkeit, Herzschmerzen, Angst- und Beklemmungsgefühle, Atemnot und grippale Beschwerden.
Das Beschwerdebild muss chronisch (dauerhaft) sein und die Symptome sollen durch schon geringe Konzentrationen der entsprechenden Agenzien ausgelöst werden (was bei anderen Menschen keinerlei Reaktionen auszulösen pflegt). Beispiele: Industrie-Chemikalien, Nahrungsmittel-Additive, Pestizide, Arzneimittel, Innenraum-Luftschadstoffe, Lösungsmittel, Alkohole, Parfum, Kosmetika, Kleidung, Plastik, Chlor, Amalgam, Kfz-Abgase, Ozon, Benzin, ionisierende und elektromagnetische Strahlen.
Wird der (subjektive oder objektivierbare) Schädigungs-Bereich gemieden, kommt es zur Besserung oder vollständigen Genesung.
Man schätzt, dass die Multiple Chemikalien-Empfindlichkeit (MCS) etwa 0,2 bis 4% der Erwachsenen betrifft. Auf Deutschland bezogen wären das etwa 300.000 Personen.
Die Ursachen und Hintergründe sind ein weites Feld. Beispiele: unentdeckte traditionelle Krankheiten (Vergiftungen, Immundefekte), eine allgemeine vegetativ-nervöse Übererregbarkeit, die Fehlverarbeitung traumatischer Erlebnisse, seelische Störungen mit hypochondrischen, hysterischen und zwanghaft-phobischen Zügen, psychosomatische Störungen, chronische Vergiftungen durch Lösungsmittel, Pestizide u. a. Ferner Hormon- und Stoffwechselstörungen, Reizung der Atemwege mit entsprechender Immun-Reaktion, Fehlregulation nervlich ausgelöster Entzündungen, Rückwirkung auf das Zentrale Nervensystem, Fehlregulation des Abwehrsystems, die Erhöhung der Erregbarkeit bestimmter Gehirnzentren (z. B das limbische System) u. a.
Die Wissenschaftler, die sich damit beschäftigen, favorisieren unterschiedliche Organ-Systeme vom Metabolismus (Stoffwechsel) bis zu neurohormonellen Veränderungen im Gehirn. Die bisher vorliegenden wenigen kontrollierten Studien mit MCS-Patienten zeigen aber auch, dass die meisten in den entsprechenden Untersuchungen nicht (!) zwischen Placebo-Exposition und Noxen-Exposition unterscheiden können, d. h. ob nur eine harmlose Schein-Belastung oder eine echte Belastung vorliegt. Ob ein genetischer Hintergrund existiert ist bisher fraglich (Empfindlichkeits-Vererbung, entweder real-organisch oder rein seelisch als eingebildete Überempfindlichkeit).
Die in Deutschland gesammelten MCS-Fälle gehen meist auf Schadstoffe in der Wohnung, auf Nahrungsmittel bzw. Nahrungsmittel-Rückstände, auf Schadstoffe im Wohnungsumfeld und am Arbeitsplatz zurück sowie auf Medikamente, Dental-Materialien (die vom Zahnarzt verwendet werden) sowie Trinkwasser.
Wenn man MCS-Patienten psychologisch untersucht, dann gibt es schon Unterschiede zum Gesunden, besonders in den Bereichen Somatisierung ("Verkörperlichung von unverarbeiteten seelischen und psychosozialen Problemen"), Zwanghaftigkeit, Depressivität und Ängstlichkeit.
Andererseits aber müssen alle damit befassten Ärzte zugeben: Es gibt diese Patienten - und sie leiden! Sie sind aber auch eine schwierige Klientel, denn wenn sie einmal auf ihre (subjektive Laien-)Diagnose fixiert sind, wird die Situation bald ausweglos, da sich bedrohliche Stoffe tagtäglich und überall auftun.
So geraten viele dieser Patienten in eine bedauernswerte soziale Isolation, verlieren ihren Arbeitsplatz und bringen ihre zwischenmenschlichen, vor allem partnerschaftlichen und familiären Beziehungen in Gefahr.
Deshalb gibt es inzwischen Selbsthilfegruppen und als Einzel-Behandlung vor allem die Verhaltenstherapie.
Zusammenfassende Übersicht aus H.-J. Seidel: Klinische Umweltmedizin, 2005"
http://www.psychosoziale-gesundheit.net/bb/06umweltmedizin.html
H.-J. Seidel:
KLINISCHE UMWELTMEDIZIN
Kurzlehrbuch für angehende und praktizierende Ärzte
Shaker-Verlag, Aachen 2005.