[b](Dieser Kommentar ist ausdrücklich nicht als Unterstützung für Frau Grote (vgl. thread über Dachverband) gedacht. Ich kenne ihre Vorstellungen nicht.)[/b]
Provokationstests gehören seit langem zur umweltmedizinischen Praxis. Solange anerkannte Biomarker fehlen, stellen sie die einzige zuverlässige Methode zum Nachweis von MCS dar. Ihre ordnungsgemäße Anwendung setzt jedoch eine ausreichende Kenntnis der Materie und das Vorhandensein geeigneter Instrumente in Form einer umweltkontrollierten Gebäudeeinheit/Klinik (ECU) voraus. Die maßgebende Autorität auf dem Gebiet dürfte nach wie vor Prof. Rea aus Dallas sein. In seinem vierbändigen Werk über Chemical Sensitivity schreibt er dazu u.a. (William J. Rea Chemical Sensitivity: Tools, Diagnosis and Method of Treatment, Volume IV, CRC-Press, 1997, S 2254-2261):
„Patienten müssen sehr sorgfältig auf Provokationstests vorbereitet werden. Wir haben über 2000 stationäre Patienten vorbereitet indem wir die Prinzipien der Reduktion der totalen Körperbelastung und der Deadaptation ihrer Körper im ECU (Environmetal Control Unit: umweltkontrollierte Gebäudeeinheit/Klinik) anwandten. Diese Prozedur zur Belastungsreduktion eliminiert chronische Effekte und erlaubt die Reproduzierbarkeit des Auftretens akuter Reaktionen und provozierter Reaktionen.
Wenn das ECU angemessen hinsichtlich Schadstoffen kontrolliert worden ist, verschwinden die hartnäckigen Symptome eines Patienten oft ohne Gabe von Medikamenten. Oft verschlimmern sich die Symptome ein bis vier Tage lang. Sie verschwinden dann über die nächsten ein bis sechs Tage. Krankheitsanzeichen und Symptome gehen dann auf ein Basisniveau zurück und die Patienten fühlen sich besser, als seit sie krank wurden. Dieses Phänomen wurde bei Patienten mit Phlebitis, Arthritis, Herzrhythmusstörungen, Vasculitis und anderen Leiden beobachtet. … Sobald der Patient sich für einige Zeit (24 Stunden) in einem stabilen Basiszustand befindet, kann er mit Wasserkontaminanten, Nahrungsmitteln, Nahrungsmittelkontaminanten und Luftkontaminanten provoziert werden.
…
Provokationstests (Challenge Testing)
Provokationstests können auf jede gewünschte Weise ausgeführt werden, darunter oral, inhalativ, auf der Haut und/oder in der Haut. Es ist jedoch am wünschenswertesten den natürlichen Expositionsweg des Patienten zu simulieren. Um reproduzierbare und die genauest möglichen Ergebnisse zu erhalten, sollte sich der Patient immer im deadaptierten Zustand mit reduzierter Körperbelastung befinden. Drei bis vier Tage Karenz in kontrollierter Umgebung sind erforderlich um diesen Zustand zu erreichen. Darüber hinaus muß das Reaktionsmuster verstanden und ausgewertet werden.
Reaktionsmuster
Im ECU mit reduzierter totaler Körperbelastung und wenn der Patient sich im demaskierten, deadaptierten Zustand befindet, traten 89,6% von 60000 provozierten (inhalativ oder oral) Reaktionen bei 2000 Patienten in den ersten 4 Stunden auf, 89,8% davon wiederum in den ersten 15 Minuten. ….
… Es ist ratsam, die Reaktionen so schnell wie möglich zu beenden, sobald die benötigte Information gewonnen wurde. …
Krankheitszeichen und Symptome
Wenn man Anzeichen und Symptome quantitativ auswertet, muß man den passenden Satz an Parametern messen, also die Anzeichen, die der Patient entwickelt hat und die vorher bei ihm beobachtet worden waren.
Wenn der Patient Asthma hat, muß der Peak-Flow (flow studies) gemessen werden. Herzrhythmusstörungen können mit dem EKG gemessen werden, geschwollene Gelenke mit dem Arthozirkameter, Schmerz mit dem abgestuften Maß für traumatischen Schmerz (graded traumatic pain gauge), abdominale Schwellungen durch Messung des Bauchumfangs, etc. Wenn die falschen Parameter gemessen werden kann ein falscher Schluß über den Patienten gezogen werden, …“
Auch Claudia Miller betont in ihrem Buch (Nicholas A. Ashford, Claudia S. Miller: Chemical Exposures: Low Levels and High Stakes, 2nd Edition , Wiley-Interscience, 1998) den hohen Stellenwert von Provokationstest für Diagnostik und Forschung:
S 57:
„Was benötigt wird, ist ein empfindliches Werkzeug, dass unter Berücksichtigung der individuellen Variabilität verlässlich Symptome von Expositionen gegenüber niedrigen Konzentrationen verschiedener Chemikalien beim Menschen findet, ein Werkzeug, das uns erlaubt Ursache -Wirkungsbeziehungen zwischen Expositionen und Symptomen zu verifizieren. Die umweltkontrollierte Gebäudeeinheit/Klinik könnte so ein Werkzeug sein. Möglicherweise ist es das nützlichste der vier Herangehensweisen für das Studium menschlicher Reaktionen auf Stoffe in der Umwelt.“
S 127:
„Wie in Kapitel 2 im Detail diskutiert, ist der Goldstandard für die Diagnose chemischer Überempfindlichkeit bei einem Patienten die umweltkontrollierte Gebäudeeinheit/Klinik, zusammen mit Fasten. Obwohl diese Vorgehensweise zu teuer und zeitaufwendig für den durchschnittlichen Patienten sein mag, kann es für die sehr kranken der einzige Weg sein, um diese multifaktorielle, polysymtomatische Krankheit aufzudecken. Irgendwann mögen Biomarker für Chemikaliensensibilität entwickelt werden, insbesondere, wenn die Krankheitsmechanismen biochemisch oder immunologisch sind. Wenn jedoch das Nerven- oder Limbische System der Schlüssel ist, kann es sein , dass es nicht möglich ist Biomarker zu identifizieren.“
S 296:
„Aus ethischen Gründen ist die erste Stufe von TILT (Initiation/Auslösung) schwieriger in Menschen zu modellieren als die zweite Stufe (Triggering/Auslösung). Letztendlich können epidemiologische Studien und Tierversuche die erste Stufe erhellen. Ereignisbedingte Studien, zum Beispiel die Gelegenheiten, die sich durch „natürliche Experimente“ bieten wie dem Golfkrieg, einem Pestizidunfall oder einem kontaminierten Gebäude, sind hier sehr wichig. Glücklicherweise bietet sich die zweite Stufe bereitwillig zur Untersuchung durch direkte menschliche Provokationstests an, und liefern so eine leistungsfähige Form wissenschaftlicher Evidenz durch Beobachtung, die, im Gegensatz zu unaufgedeckten Zusammenhängen bei epidemiologischen Studien, Kausalität begründen können.“
Als wissenschaftliche Basis für derartige Untersuchungen kann die sog. „Consensus Definition“ von 1999 dienen, die derzeit wohl die gebräuchlichste ist (
http://www.mcsrr.org/1999Defn.pdf):
Konsenskriterien für MCS
Die folgenden Konenskriterien für die Diagnose von MCS wurden von der Studie von Nethercott et al. (teilweise finanziert vom US NIOSH und NIEHS) übernommen:
1. Die Symptome sind reproduzierbar bei wiederholter Exposition [gegenüber Chemikalien].
2. Die Erkrankung ist chronisch.
3. Das Syndrom tritt bei Exposition gegenüber niedrigen Konzentrationen auf [niedriger als vorher oder allgemein toleriert wird].
4. Die Symptome verbessern sich oder verschwinden ganz, wenn die Auslöser entfernt werden.
5. Es erfolgen Reaktionen auf verschiedene chemisch nicht verwandter Substanzen.
6. [1999 hinzugefügt]: Die Symptome betreffen multiple Organsysteme.
Weiter heißt es:
„… wir empfehlen, dass MCS – zusätzlich zu jeder anderen Krankheit die vorhanden sein mag – in allen Fällen diagnostiziert wird, in denen die 6 oben genannten Kriterien erfüllt sind und keine andere einzelne organische Erkrankung (z.B. Mastozytose) alle Anzeichen und Symptome in Verbindung mit chemischen Expositionen allein erklären kann.“
“Wir würden nur hinzufügen, dass Symptome, die in Verbindung mit chemischen Expositionen auftreten, multiple Organsystem betreffen müssen, und auf diese Weise MCS von spezifischen, nur ein einzelnes Organ betreffende Erkrankungen (z.B. Asthma, Migräne), die ebenfalls die ersten 5 Kriterien erfüllen, unterscheiden.“
“… wir empfehlen, MCS immer zu diagnostizieren, wenn alle 6 der Konsenskriterien erfüllt sind, neben allen anderen Erkrankungen, die ebenfalls bestehen mögen, wie Asthma, Allergien, Migräne, Chronisches Müdigkeitssyndrom (CFS), und Fibromyalgie (FM). MCS sollte nur dann ausgeschlossen werden, wenn eine einzelne sonstige Multisystemerkrankung sowohl für das ganze Spektrum der Anzeichen und Symptome und deren Verbindung mit chemischen Expositionen verantwortlich sein kann, wie Mastozytose oder Porphyrie, aber nicht CFS oder FM, die damit nicht in Verbindung stehen.“
Die Kriterien 1. und 4. der Definition liefern einen beobachtbaren und im Provokationstest überprüfbaren konditionalen Zusammenhang, der Kausalität nach sich zieht.
Jeder andere physiologische Test (Biomarker) kann nur von solchen Tests abgeleitet werden, da er irgendwie validiert werden muß, und es gegenwärtig keine andere Validierungsmöglichkeit gibt. Jede Theorie über die Mechanismen hinter MCS kann nur an Hand dieses Maßstabs überprüft werden.
Wenn wir für irgendetwas kämpfen sollten, dann dafür, dass Einrichtungen geschaffen werden, die auf dieser Basis zunächst weiter Forschung betreiben und Standards entwickeln können, die zum möglichst individuellen Nachweis von MCS geeignet sind. Dass das geht hat u.a. Prof. Rea demonstriert.
Dies, die Entwicklung wissenschaftlich brauchbarer Protokolle für Provokationstests, ist der einzige systematische Weg MCS objektivierbar zu machen. Ansonsten können wir nur auf den Erlöser warten, der MCS plötzlich durch einen unerwarteten wissenschaftlichen Durchbruch nachweisbar macht.
Hiervon hängt alles weitere ab. Erst wenn man MCS-Kranke objektiv von nicht Erkrankten unterscheiden kann (zumindest in einer genügenden Anzahl von Fällen), können wir allgemeine Anerkennung erwarten. Die Forderung nach einer solchen Einrichtung sollte auch leichter durchsetzbar sein, als die gegenwärtig verbreiteten Kampagnen für politische Anerkennung. Wenn die Objektivierung gelingt, folgt alles weitere automatisch. Umgekehrt nicht!
Bislang ist es interessierten Kreisen erfolgreich gelungen derartige Bemühungen um Nachweismethoden zu ignorieren und zu unterdrücken. Offenbar ist die Unkenntnis darüber sogar in der MCS-Community verbreitet (s. Thread über Dachverband), so dass man sich hier auch gar nicht erst um Desinformation bemühen muß. Den Job besorgen wir bedauerlicherweise selbst durch Schauergeschichten über dilettantisch durchgeführte Provokationstests.