http://www.welt.de| am 06.11.2011
"Das Geschäft mit der kranken Seele.......
Eine ganze Industrie ist entstanden, die die Erkundung der eigenen Seele wie ein karrierenützliches Hobby oder einen Entspannungsurlaub behandelt. Viele Angebote zielen auf die Bedürfnisse wohlhabender Burn-out-Patienten, auf Akademiker und Besserverdienende. Abschalten, möglichst weit weg vom Wohnort und vom Alltag, so lautet das Geschäftsmodell. Es ist chic und sehr erfolgreich. So erfolgreich, dass es zum Maßstab dafür geworden ist, was die Deutschen von ihren Krankenkassen bezahlt haben wollen. Und inzwischen bezahlt bekommen.
Ein gutes Beispiel dafür sind psychosomatische Kliniken. Viele von ihnen findet man an abgelegenen Orten, in Brandenburgs Wäldern, am Chiemsee oder am Starnberger See. Sie gleichen oftmals eher Wellnesshotels mit Vier- Sterne-Ausstattung als Krankenhäusern. Es gibt Hunderte solcher Kliniken oder zumindest eigene Stationen in Krankenhäusern, von Jahr zu Jahr werden es mehr. Denn sie sind für Krankenhauskonzerne so lukrativ, dass sie in den vergangenen Jahren weitere Häuser gegründet oder bestehende vergrößert haben.
Der Aufenthalt dort ist in der Regel eine sehr teure Möglichkeit, einen Patienten zu behandeln, aber nicht unbedingt die sinnvollste. Manche dieser Kliniken tun im Prinzip, was Hans Kreis tut: Ein Patient kann sich dort wohlfühlen, spazieren gehen, schlafen. Eine Auszeit nehmen. Die Frage ist nur, ob ihm das wirklich hilft. Denn viele psychische Störungen behandeln die Wellnesskliniken gar nicht. Vor allem schwere nicht, die zu therapieren viel Zeit erfordert, speziell ausgebildetes Personal. Das alles ist entsprechend teuer. Diese Patienten überlässt so manche psychosomatische Klinik lieber anderen.
Und sie sind nicht die Einzigen, die entscheiden können, welche Patienten sie annehmen wollen. Jeder Therapeut kann es. Ob er jemanden mit komplexen Problemen behandelt oder jemanden, dessen Therapie mit weniger Aufwand schöne Erfolge verspricht, ist aus finanzieller Sicht egal. Die Kassen zahlen für jeden Fall das gleiche Honorar.
Nicht nur Klaus Dörner hält das für einen folgenschweren Systemfehler. Wissenschaftler, Ökonomen, Ärzte und Gesundheitspolitiker teilen diese Einschätzung.......
Das Ergebnis ist, dass es einem von vier Patienten nach einer Therapie nicht besser geht als vorher, jedem zehnten sogar schlechter. Nachzulesen sind diese Zahlen zum Beispiel in Veröffentlichungen der Abteilung klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Bern, auch in den USA gab es mehrere Studien mit ähnlichem Ergebnis. Dass Falschbehandlungen ein Problem sind, bestätigen fast alle Experten. Sie gefährden die Patienten, und sie sind teuer. Mehreren Schätzungen zufolge sollen sie in Deutschland fünf Milliarden Euro Kosten verursachen, jedes Jahr. Der Bochumer Psychologe Jürgen Margraf, ein renommierter Fachmann, würde "den Betrag eher noch höher ansetzen". Denn es seien ja nicht bloß die Behandlungen und Folgebehandlungen, die viel Geld kosteten, sondern auch die Wochen oder Monate, in denen beispielsweise ein Schwerdepressiver nicht arbeiten geht.
Eine besondere Form des "Zufalls" sind Diagnosen, die dramatisiert oder erfunden werden, weil der Behandelnde daran gutes Geld verdient. Um etwas darüber zu erfahren, muss man sich abseits von Praxen und Kliniken zu vertraulichen Gesprächen treffen. Dann hört man Geschichten über Chefs oder Klinikdirektoren, die schon mal festlegen, welche Behandlungen in welcher Stückzahl zu erfolgen hätten, damit die Bilanz gut aussieht. "Wenn ich wollte, bräuchte ich fünf Minuten, um Ihnen eine Störung zu diagnostizieren, die Sie dringend behandeln lassen müssten", sagt etwa der Chefarzt einer Klinik. "Und ihre Kasse wird Ihnen anstandslos sechs Wochen in meiner teuren, privaten Klinik bewilligen. Das kommt oft genug vor."
Es sind viele, die Ähnliches erzählen. Und die bestätigen, was Klaus Dörner, der Kritiker aus Hamburg, sagt: dass das Profitstreben die Seelenheilkunde über die Jahre ziemlich verändert hat. Und zwar nicht zum Guten.......
Klaus Dörner, der Systemkritiker, denkt oft über eine Abendveranstaltung vor einiger Zeit nach. Eine Therapeutenvereinigung hatte ihn als Redner eingeladen. "Wenn Sie alle ehrlich wären", hat er dort gesagt, "müssten Sie jeden dritten Menschen, der zu Ihnen in die Praxis kommt, wieder nach Hause schicken." "
http://www.welt.de/print/wams/wirtschaft/article13700764/Das-Geschaeft-mit-der-kranken-Seele.html