von Amalie » Samstag 11. Juli 2009, 22:35
Bartens Artikel: Ein echtes Lehrstück
Werner Bartens steckt sich in seinem Artikel in der ZEIT das hohe Ziel, den gesellschaftlichen Hintergrund der heutigen "neuen" Krankheiten zu erklären, und damit deren Auftreten.
Zuerst einmal erklärt er, unser Anspruch sei zu hoch. "Wer ist schon alles auf einmal: geborgen in der Familie und glücklich im Beruf, zufrieden in der Liebe und zugleich noch kerngesund?"
Stimmt, dieser Anspruch wäre zu hoch. Aber: Ich glaube nicht, dass die meisten Menschen diesen Anspruch haben und sich beklagen, wenn er nicht erfüllt wird. Statt Ansprüchen sollte er sich den Status qou vieler Einwohner Deutschlands - mit oder ohne Umwelterkrankung - ansehen: arbeitslos, geschieden oder Ehe-Hölle, dazu körperlich krank und von der Arbeit verbraucht. Dass diese Menschen sich wünschen, ihnen ginge es besser, kann er wohl schlecht ankreiden, aber wohl aus seiner Position als gutbezahlter Obere-Mittelschicht-Bürger nicht verstehen.
Stattdessen folgert er "Die Leute werden gesünder, aber es geht ihnen schlechter". Damit widerspricht er sich selbst. Vorher hat er noch die seiner Meinung nach zu hohe und wohl auch real nicht erreichbare Definition von Gesundheit der WHO als "Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens" angeführt. Demnach kann man nicht gesünder sein, wenn es einem schlechter geht.
"Nie war der gesundheitliche Zustand der Bevölkerung erfreulicher. Manche Wissenschaftler rechnen damit, dass die Menschen des 21. Jahrhunderts im Durchschnitt 100 Jahre alt werden könnten." Auch das möchte ich wagen zu bezweifeln. 40% der Bevölkerung erkranken im Laufe ihres Lebens an Krebs. Wer auf die Todesanzeigen in der Zeitung sieht oder über den Friedhof geht, sieht mehr und mehr Gräber von Menschen mittleren Alters, jung gestorben. Was sie hatten? Meistens Krebs. Wissenschaftlich nachweisbar können viele Schadstoffe Krebs auslösen.
Auch tut Bartens nicht, als wäre es den Menschen früher besser gegangen - geht es ihnen also heute schlechter oder genauso schlecht? Bartens geht weiter von seiner Definition einer körperlich außergewöhnlich gesunden Bevölkerung des Industrielandes Deutschland aus.
"Und trotz alledem gibt es immer wieder Neues, was uns quält. Unbekannte Leiden und Beschwerden, die nicht so recht greifbar oder messbar sind. Oder werden sie heute nur anders wahrgenommen? Früher hießen diese Geißeln Neurasthenie, Bleichsucht und Hysterie. Heute fühlen sich Unzählige als Opfer von Technik, Stress und Allergien. Diese Begriffe sind zu Schlagworten unserer Epoche geworden."
Ein rechtes Verständnis für die "Eisenbahnkrankheiten" des 19. Jahrhunderts kann er aber schwer aufbringen, sonst würde er sie nicht als Frage des Verständnis, als "willkommenes Erklärungsmodell für diffuse Ängste und ihre körperlichen Erscheinungen" ansehen.
Dabei zitiert er sogar aus dem Brockhaus von 1892, der hier zumindest auf rein theoretischer Ebene mehr Verständnis aufbringt. Dieser erklärt, dass "Die äußern Einflüsse, denen das Maschinen- und Fahrpersonal der Eisenbahnen ausgesetzt ist, auf den Organismus in besonders ungünstiger Weise einwirken und verhältnismäßig früh Gebrechlichkeit und Dienstunfähigkeit herbeiführen. Infolge des Stehens auf der Maschine, des Dröhnens derselben und der fortgesetzt auf den Körper einwirkenden Erschütterungen" würden die Beschwerden der damaligen Eisenbahnarbeiter auftreten.
Auch schreibt Bartens "Die Chlorose, volkstümlich Bleichsucht, betraf vorallem junge Mädchen aus unteren Schichten, die viel arbeiten mussten. Sie wurden schnell müde, schwindelig, ohnmächtig. Angeblich verfärbte sich ihre Haut gelblich grün." Also - nur angeblich? Wenn ich in so eine Fabrik müsste, zehn oder auch sechzehn Stunden am Tag in Lärm, Hitze, Staub, Gestank, würde ich auch grün im Gesicht werden und ich wette, Bartens selbst auch.
Bartens meint dagegen über die Eisenbahnkrankheiten und die Chlorose "Man mag über diese historischen Diagnosen heute schmunzeln" und "Jede Zeit und jede Kultur hat passende Krankheitsbilder". Dann ist doch aus seiner Sicht Alles klar, oder? Die gesellschaftlichen Einflüsse schaffen Ängste und diese äußern sich in Krankheitsbildern. Die Sache hat einen Haken: Die historischen Krankheitsbilder, die er zum Beleg dieser Theorie heranzieht, sind simpel, gerade zu mechanisch aus rein körperlichen Einflüssen zu erklären. Das gelingt sogar dem Brockhaus 1892.
Außerdem glaubt Bartens, dass das Neue, das Ungewisse, zu den Ängsten oder anderen Empfindungen wie Unsicherheit und Nervosität führe. Sobald Alles erklärbar wäre, sei eine Krankheit bald "out". Das zeigt er zum Beispiel so: "Auch das Magengeschwür, bevorzugtes Beschwerdebild der Empfindsamen, ist aus der Mode. Seit 1985 wird der Keim Helicobacter pylori als Ursache für die Mehrzahl der Magengeschwüre angesehen." Sicher, und der Helicobacter wird heute auch noch oft diagnostiziert. Das Geschwür ist da, egal, wie man es sich erklärt.
Bartens Ansatz ist also simpel: Zuerst ist die neue, nicht erklärbare und ungewohnte Situation einer Gesellschaft. Daraus entsteht eine kollektive Unsicherheit, eine Angst oder eine Überforderung. Und mit den Ursachen der Angst, Überforderung, Unsicherheit werden dann die Krankheiten erklärt, die entweder wegen dieser psychischen Symptome oder ohnehin unabhängig ihrer Erklärung auftreten, das kann man Bartens Darstellung nicht klar entnehmen.
Also für Bartens: Ausgangssituation/ Tatsache - Erklärung - Folge (als Folge der Erklärung).
Logisch wäre doch viel eher: Ausgangssituation/ Tatsache - Folge - Erklärung.
Offenbar kann Bartens aber nicht denken, dass es vielleicht andersherum sein könnte als er glaubt, dass nämlich gesellschaftliche Situationen, hauptsächlich der Tribut, den unsere Wirtschaftsform täglich von uns allen fordert, sowohl sozial und geistig als auch körperlich, ganz simpel selbst Auslöser sind. Also nicht erst die Umstände, dann die sozialen und geistigen Folgen, dann die Unsicherheit und dann die Krankheit, sondern erst die Umstände, und dann alle körperlichen, geistigen, sozialen Folgen als direkte Folgen zusammen.
Wie soll er dieses ungewohnte Muster "Erst die Tatsache - dann die Erklärung" auch denken können. Das wäre auch riskant, Ungewohntes könnte ihn seiner Theorie nach schließlich krank mache.
Gehen wir doch vom heutigen wissenschaftlichen Ansatz aus. Wir wollen für eine Firma irgendein marktfähiges Konzept umsetzen, ein Produkt entwickeln. Das müssen wir uns erstmal eins ausdenken, und dann umsetzen, erst planen und dann produzieren.
Oder wir weisen für ein Unternehmen mit einer Studie z.B. die Unbedenklichkeit eines Medikamentes nach. Da muss man auch zuerst die Ergebnisse abwarten und hoffen dann, sie so vorzufinden, also die Studie auf diese Ergebnisse anlegen.
Erst ist die Erklärung, dann die Tatsache. Dass es in der Natur und im schließlich auch den Naturgesetzen unterliegenden menschlichen Körper vielleicht andersherum sein könnte, ist für einen Mediziner, einen Wissenschaftler unserer Gesellschaft und Wirtschaftsform, sicher schwer zu denken.
Dennoch, mit seinem Modell - Erst die Erklärung, dann die Tatsache - geht er auch an MCS, CFS und so weiter heran.
Es gibt lmeint Bartens nämlich Störungsbilder aus der Selbstsicht des Patienten, bei denen dieser Beschwerden hat, die er sich aus seiner Umwelt heraus erklärt - diese ist hier ja schließlich das Neue und Unheimliche - und damit dann seine Krankheit erklärt.
"Solch ein Störungsbild dürfte auch die Multiple chemische Sensitivität (MCS) oder das Sick Building Syndrom (SBS) sein. Hinter diesen Wortungetümern verbergen sich Leiden, deren Existenz von vielen Schulmedizinern bestritten wird. Sie sind klinisch nicht klar definiert und durch Studien nicht hinreichend belegt."
Er beschreibt zum Beispiel die Geschichte einer MCS-Kranken und erwähnt dabei den Satz "Angesichts solcher Patientengeschichten drängt es sich auf, Symptome als Symbole zu deuten."
Zum SBS sagt Bartens "Beim Sick Building Syndrom ist nicht das Gebäude krank, sondern der sich darin befindliche Mensch." Die Symptome der Betroffenen seien solche, "die durch "Ausdünstungen" aus Mauern und Wänden erklärt werden. Niemand bezweifelt, dass Baustoffe, Reinigungsmittel, Lacke oder Farben gesundheitschädlich sein können. [...] Doch bei manchen Menschen treten schon Beschwerden auf, wenn die gemessenen Schadstoffkonzentrationen am Arbeits- oder Wohnort weniger als ein Prozent des zulässigen Höchstwertes betrifft."
Er lässt auch den Oberarzt für Psychosomatik und Fachmann für das Erschöpfungssyndrom an der Freiburger Uniklinik sprechen, der meint, man müsste die "subjektive Realität" der Kranken anerkennen. "Sie sei Teil jedes Menschen. Beim einen sei es chronische Erschöpfung, beim anderen Hyperaktivität, beim nächsten eine Überempfindlichkeit."
Scheidt hat eine klare Meinung: "Die Betroffenen betreiben selbst Ursachenforschung und bieten daher auch ihre eigenen Diagnosen an [...] Diagnosen haben schließlich auch soziale Steuerungsfunktion." So würden, meint Bartens, die an den seltsamen neuen Krankheiten mit den komplizierten Namen Erkrankten von unangenehmen Aufgaben freigestellt werden und soziale Rücksichtnahme erfahren. Er spricht nicht an, dass das Gegenteil der Fall ist, Betroffene arbeitslos werden und von ihrem Umfeld verlassen werden.
Als Arzt hat Bartens natürlicherweise ein Problem mit der Eigeninformation der Patienten. "[...] nebenbei sind aus eingebildeten Kranken ausgebildete Kranke geworden. Im Internet und in den immer zahlreicher werdenen Selbsthilfegruppen diverser Leidender kursieren Ratschläge und Meinungen über Erkrankungen jenseits von Ärzten und medizinischen Fakultäten."
Ja, Herr Bartens, was wollen die Betroffenen sonst machen, außer sich zusammenschließen, wenn ihnen keiner helfen kann bzw. will? Außerdem, wo ist das Problem der Zusammenschließungen? Ist Zusammenarbeit denn nicht positiv? Oder nur, wenn sie innerhalb eines profitablen Unternehmens stattfindet? Das wäre aber dann Doppelmoral: Im Unternehmen ist Zusammenarbiet gut - Als Selbsthilfegruppe Profitgeschädigter nicht.
Nach all dem muss man eigentlich nicht weiter ausführen. Bartens Standpunkt nach dem Leitsatz - Erst ist die Erklärung, dann ist die Tatsache - ist geklärt: Die Patienten fühlen sich verunsichert und schreiben ihr Leiden dann den Dingen zu, die ihnen unheimlich sind. Es müsste sich also die Erklärung verändern, dann verändert sich auch die Tatsache.
Dieser Ansatz ist für die Psychiatrisierung der angeblich neuen Leiden geradezu perfekt. An psychischen Erkrankungen kann man gut verdienen, sie passen in unser System, in unsere Wirtschaftsform und die ihr entsprechende Gesellschaftsform. Umweltkranke dagegen wären erstens ein zugegebenes Problem, das unsere Wirtschaftsform verursacht, und zweitens können Umweltkranke nur die Auslöser ihrer Krankheit meiden, sind also kein Rohstoff für den profitablen Markt, in dem mit Patienten, Medikamenten, Therapiekonzepten, Ärzten und Therapeuten die Gewinne erwirtschaftet werden.
Aber Bartens ist nicht so unvorsichtig , diesen ganzen hier dargestellten Standpunkt ausschließlich und damit angreifbar, sehr leicht kritisierbar zu vertreten. Er verwirrt den potentiellen Kritiker, schlägt ihn mit seinen Argumenten. Zur Bezeichnung Kranker als Hypochonder meint er "Den meisten Kranken geschieht damit Unrecht." Er bringt ein, dass vielleicht doch Viren für CFS verantwortlich sein könnten.
Und dann meint er noch ganz korrekt: "Noch mehr als unter dem Vorwurf, sich eine Beschwerlichkeit einzubilden, leiden viele Betroffene unter vorschnellen Psychologisierungen. Dabei werden die Krankheitsfolgen - beispielsweise sozialer Rückzug oder Einschränkung der Alltagsaktivität - gern als Ursachen der Erkrankung angesehen. [...] Solche Vulgärpsychologie müssen sich Menschen immer anhören, deren Beschwerden noch nicht bekannt sind oder sich einer schlichten Erklärung entziehen."
Schlau führt er auch hier Beispiele an, zum Beispiel, dass Parkinson als psychisch galt, bis die neurologischen Ursachen gefunden wurden.
Auch nimmt er dann seinen Angriff auf die Zusammenschlüsse von Patienten einfach wieder zurück, "denn das Reden über Krankheit sei so demokratisiert worden [...]. Heute ist die Deutungsmacht über die Symptome aufgeteilt. Es gibt konkurrierende Modelle zur Erklärung einer Krankheit."
Bartens macht mit Zitaten deutlich, das Problem betreffe mittlerweile alle Schichten, Ärzte seien stärker gefordert als früher, man müsse den Patienten abholen wo er steht usw.
Bartens lässt also alle Meinungen einfach gelten?
Womit haben wir es hier zu tun? Mit einem Autor, der nicht weiß, was er will? Schließlich nehmen diese Argumente, die eigentlich Bartens Kritiker bringen würden, einen beträchtlichen Teil des Artikels ein, in dem er sich damit ständig selbst widerspricht. Aber nein. Unser Autor weiß, was er will.
Bartens Artikel ist ein Lehrstück der Taktik des Pluralismus (Pluralismus = Alle Meinungen gelten lassen). Indem man alle Meinungen gelten lässt, auch die des Gegners bzw. Kritikers, nimmt man diesem den Wind aus den Segeln. Der kann dann verzweifelt mit all seinen Argumenten kommen - wer den Pluralismus anwendet, kann sich diese still lächelnd anhören und dann sagen "Aber das habe ich doch gar nicht bestritten."
Wer braucht Pluralismus als Taktik? Jemand, der seine Theorie nicht allein mit klarer Logik belegen, seine Meinung einfach und logisch vertreten, und auf diese dem eigenen Standpunkt treue Weise den Kritiker widerlegen kann.
Dieses Lehrstück ist ein Beispiel, in dem wirklich jede letzte Ecke dieser Taktik innerhalb eines Artikels ausgeschöpft wurde. Wenn sich keine logischen Argumente letztendlich für unsere Wirtschaftform mehr finden, lassen ihre Träger und Verteidiger schlicht und einfach alle Argumente gelten und führen selbst alle Argumente - auch die der Kritiker - ins Feld. Die können dann nicht mehr sagen, ihre Meinung würde nicht diskutiert. Wenn wir den gesamten Mainstream der öffentlichen Diskussion betrachten, sehen wir diese Taktik in jedem Thema, sie ist überall wiederzufinden.
Nun, Herr Bartens. Nicht allen Menschen ist so leicht der Wind aus den Segeln zu nehmen. Die Argumente der Patienten, die sich zum Ärger Ihrer Kollegen im Internet zusammenschließen, austauschen, gegenseitig unterstützen, weil sie nur hier Unterstützung bekommen, die wissen, dass sie mit ihrer Meinung auf der Seite des gesunden Menschenverstandes stehen.
Ich würde nun gern sagen, ihr könnt uns Alles nehmen, aber nicht unsere Meinung.
Haken:
In Zeiten von Psychopharmaka sind auch die Gedanken nicht mehr frei. Ich möchte hier an die Kranken erinnern, die arm und verlassen sind, aber die ihre Gedanken und ihre Meinung noch haben. Und ich möchte an die Psychiatrie-Insassen erinnern, denen man wirklich Alles genommen habt, die man von Menschen zum Industrie-Rohstoff degradiert und diese Degradierung komplett vollzogen hat.