von Alex » Sonntag 9. April 2006, 09:07
29.09.2000 Reinhard Plassmann
Einige Zitate Plassmanns aus dem Beitrag " Psychosomatik in der Umweltmedizin" der 1999 in der ZfU erschien:
Mittlerweile überblickt die Umweltstudie der Burg-Klinik 100 Fälle überwiegend schwerster chronischer Erkrankungen. Die durchschnittliche Zeit der Arbeitsunfähigkeit in den zwei Jahren vor Reha-Beginn lag bei 333 Tagen, 75 Prozent der Patienten sind langzeitkrankgeschrieben (Abb. 1). Der verbleibende Rest der Patienten ist überwiegend arbeitslos.
Es handelt sich um eher jüngere Patienten mit einem Durchschnittsalter von 42,2 Jahren. Zum Vergleich: Das Durchschnittsalter bei Patienten mit psychosomatischen Syndromen insgesamt beträgt 44,6 Jahre, bei Patienten mit onkologischen Erkrankungen 54,7 Jahre.
Mit 67 Prozent dominiert der Arbeitsplatz bei den von den Patienten subjektiv erlebten Unverträglichkeitsbereichen, an zweiter Stelle steht die Ernährung (Abb. 2). Die Hälfte der Patienten meidet zahlreiche Lebensmittel. Sehr häufig nennen sie auch Unverträglichkeiten im Wohnbereich und in Bezug auf Textilien und Kosmetik.
Eine Untergruppe bilden die Patienten mit amalgambezogenen Befürchtungen, was etwa ein Drittel der Patienten betraf. Etwa ein Viertel der Patienten hat Unverträglichkeiten in drei oder mehr Bereichen, zwei Patienten beschrieben diffuse Überempfindlichkeiten, die sich nicht auf bestimmte Bereiche beziehen ließen.
Die Patienten fühlen sich subjektiv sehr krank. Dies zeigt sich zum Beispiel in durchschnittlichen Beschwerdewerten von 30. In diesen Wert geht sowohl die Symptomvielfalt, als auch die beklagte Beschwerdeintensität ein. Zum Vergleich liegt der durchschnittliche Beschwerdewert von onkologischen Patienten bei 12,6.
Bruchstellenmodell unterscheidet drei Phasen
Um Behandlung und Rehabilitation planen zu können, brauchen wir zunächst ein Erklärungsmodell. Allerdings hat die Ätiologie der Umweltkrankheiten einen Komplexitätsgrad, der weit höher liegt als bei anderen Erkrankungen. Aufgrund vielfältiger, einander durchkreuzender körperlicher und psychischer Prozesse versagen monokausale Modelle erfahrungsgemäß.
Das hier vorgestellte "Bruchstellenmodell" beruht auf der Annahme, dass bei der Entstehung einer chronischen Umweltkrankheit drei verschiedene Zeitpunkte zu unterscheiden sind, an denen zur Krankheit führende somatische, psychische und soziale Prozesse stattfinden können:
Phase A – Prädisposition: Entstehung präexistenter psychischer Belastungen in der Zeit vor der Umwelterkrankung.
Phase B – Auslösung: Entstehung von Primärsymptomen und der subjektiven Krankheitstheorie.
Phase C – Chronifizierung: Hier wirken sich Eigengesetzlichkeiten im somatischen Bereich, in der Krankheitsverarbeitung und in der psychosozialen Lebensorganisation aus.
In allen drei Phasen des Krankheitsverlaufes sind die ätiologischen Komponenten so sorgfältig wie möglich zu differenzieren. Kein einzelner ätiologischer Faktor darf für sich beanspruchen, alleinige Krankheitsursache zu sein.
Psychosomatische Prozesse zu beschreiben heißt deshalb nicht, sie als alleinige Krankheitsursache anzusehen. Es gibt allerdings auch keinen Grund, solche psychosomatischen Komponenten zu übergehen.
In der Prädispositionsphase stehen wir klinisch vor dem Phänomen der Co-Morbidität. Bei Umweltpatienten finden sich regelmäßig präexistente psychische Belastungen vielfältigster Art.
Nach unseren bisherigen Erfahrungen sind Umweltpatienten in der Phase vor ihrer Umwelterkrankung nicht psychisch krank, sondern psychisch belastet. Es handelt sich häufig um tüchtige, an Leistung orientierte und nach Selbstständigkeit strebende Persönlichkeiten.
Auffällig häufig berichten die Patienten im Zuge der psychosomatischen Behandlung über eine "frühe Unrechtserfahrung". Sie waren in ihrer Lebens- und Persönlichkeitsentwicklung Bedingungen ausgesetzt, die sie als Unrecht empfunden haben: Sie sahen sich einer unbegründet feindlich reagierenden Umwelt wehrlos ausgeliefert. Die persönlichen Spielarten dieser Erfahrung sind sehr verschieden (siehe nebenstehenden Kasten).
Auf jeden Fall leisten viele Patienten vor der eigentlichen Umwelterkrankung einen permanent erhöhten Bewältigungs- und Abwehraufwand in ihrer Persönlichkeitsorganisation und ihrer Lebensgestaltung. Sie wollen nicht die Kontrolle über die früh erlebten Konflikte verlieren, welche aber ständig eine Art latenter Bruchstelle in der Persönlichkeit bilden.
Die Körperwahrnehmung als unheimlich erlebt
Bei einem erheblichen Teil der Umweltpatienten, insbesondere bei solchen mit Krankheitsbildern vom Typ der MCS, sehen wir bei der Entstehung der Primärsymptome (Phase B) Verläufe, die sehr stark an die Muster von Traumaerfahrung und
-verarbeitung erinnern [2]. Diesem Modell folgend unterscheiden wir zunächst die traumatische Situation vom traumatischen Prozess.
Die von den Patienten geschilderten Auslösesituationen ihrer Erkrankungen haben häufig traumatischen Charakter. Die Patienten beschreiben übereinstimmend, dass sie sich einer Situation ausgesetzt fühlten, in der sie überwältigt, bedroht, beschädigt und dabei zutiefst hilflos waren.
Die als schädlich erlebten Agenzien sind ubiquitär, häufig unsichtbar, kaum identifizierbar und lokalisierbar und häufig mit den Sinnen nicht wahrnehmbar: Sie erfüllen somit alle Bedingungen des Unheimlichen.
Das Gleiche gilt für die erlebten körperlichen Erscheinungen. Die Patienten beschreiben übereinstimmend die äußerst unangenehme Situation, die eigenen Reaktionen ihres Körpers nicht mehr zu verstehen, vorhersehen und nicht einordnen zu können. Sie erleben Körperwahrnehmungen als äußerst unangenehm und chaotisch, als rätselhaft und unheimlich.
Angegriffen vom eigenen Körper und der Umgebung
Insbesondere das Unvorhersehbare und Heftige der Körperreaktion wird immer wieder als traumatische Erfahrung beschrieben. Die Patienten fühlen sich, als ob sie mit verbundenen Augen jederzeit mit einem Schlag rechnen müssten.
Es kann sich dabei um eher kurzdauernde, einmalige und als katastrophal erlebte Situationen handeln, oder um eine eher kumulative Traumatisierung durch Situationen, die eine Zeit lang bewältigt werden, bis es dann zur Dekompensation kommt. Der Grund dafür ist das permanente Gefühl von Bedrohung und Überwältigung einerseits verbunden mit dem Gefühl fehlender Handlungs- und Bewältigungsmöglichkeiten andererseits.
Der traumatische Charakter der Situation entsteht auch daraus, dass die Patienten sich gleichsam umzingelt fühlen, angegriffen von der Umgebung und vom eigenen Körper, der sie mit unberechenbaren Reaktionen anzugreifen scheint. Dabei geht das natürliche Vertrauen in das Selbst- und Weltverständnis verloren.
Es entsteht ein Desorientierungstrauma, da die Patienten für die Geschehnisse keine Erklärung finden – sei es, weil chronisch-toxische Vorgänge ihnen (und den Ärzten) noch weitgehend unbekannt und rätselhaft sind, sei es, dass psychische Konflikte zu Symptomen führen, die ebenfalls noch unverstanden und unverarbeitet sind.
Die Desorientierung im eigenen Körper und in der Welt ist ein Zustand, den der Mensch auf Dauer nicht erträgt. Wichtigster Bestandteil der Bewältigung dieses Traumas ist der Wiedergewinn von Erklärungsmodellen in Gestalt der subjektiven Krankheitstheorie. Hierbei versuchen die Patienten, sich die eigene Störung des Wohlbefindens zu erklären.
Umweltpatienten investieren enorm viel Energie in ihre subjektive Krankheitstheorie, sie werden zu Laienexperten. Je ausgeprägter die Desorientierung der Patienten, desto mehr beginnen sie, um eigene Erklärungsmodelle zu kämpfen.
Unverständnis und Ablehnung wirken traumatisch
Diese subjektive Krankheitstheorie umfasst einen ätiologischen und einen präventiven Teil. Sie soll Ursache und Wirkung erklären und Vorsorge vor weiteren Traumata ermöglichen. Der streckenweise irrationale Charakter dieser Theorien fällt immer wieder auf. Er resultiert aus der objektiven Schwierigkeit, die komplexen Vorgänge zu deuten – eine Schwierigkeit, die die Patienten mit der Wissenschaft teilen –, und aus der subjektiven Bedeutung, die das Desorientierungstrauma als Wiederholung früher Erfahrung bekommt.
Der Kampf um Anerkennung der eigenen Erklärungsmodelle hat sehr große Bedeutung. Zum einen ist es ein zutiefst beunruhigender Zustand, an einer Erkrankung zu leiden, für die die Medizin keine Erklärung und kaum Hilfe anbieten kann. Dazu kommt der Kampf um die eigenen Rechte. Es ist erfahrungsgemäß für Umweltpatienten eine traumatische Erfahrung, auf Unverständnis oder Ablehnung zu stoßen.
Jedoch ist eine subjektive Krankheitstheorie für die Patienten lebensnotwendig – sei sie in Teilen auch irrational [4] (Tab. 1). Daraus ergibt sich als therapeutische Konsequenz, dass zwischen der Krankheitstheorie des Patienten und derjenigen der Klinik eine Passung herzustellen ist.
Das aktive Arbeiten mit der subjektiven Krankheitstheorie ist für die Behandlungsplanung sehr wichtig. Ein Patient mit somatischer und psychosozialer Krankheitstheorie, der zum Beispiel Giftstoffexposition und beruflichen Stress für die Entstehung seiner MCS verantwortlich macht, wird häufig auch eine psychosoziale Lösung fordern, etwa berufliche Entlastung oder Berentung.
Selbst bei Hinweisen auf äußeren und inneren Stress (wie gravierende innerpsychische Konflikte) macht es wenig Sinn, dem Patienten Psychotherapie vorzuschlagen, wenn sie nicht in sein persönliches Erklärungsmodell passt. Sinnvoll sind dann am beruflichen ansetzende Lösungsstrategien – verbunden mit stützender und sensibilisierender psychosomatischer Grundversorgung.
Problematisch sind konditionierte Reaktionen
In Phase C laufen Chronifizierungsprozesse durch somatische, psychische und psychosoziale Faktoren ab. Bei einem erheblichen Teil der Umweltpatienten mündet die Erkrankung in einen langjährigen chronischen Verlauf.
Die Chronifizierungsfaktoren bilden insofern eine dritte Bruchstelle, als hier der soziale Rückzug eine Eigengesetzlichkeit bekommt, wie bei anderen chronischen Erkrankungen auch. Die soziale Rolle verändert sich: Die Patienten geben Verantwortung ab, sie werden zu Versorgungsempfängern sowohl in ihren (sofern vorhanden) Familien, als auch im sozialen Netz.
Besonders problematisch ist die ständige Zunahme von Überempfindlichkeitsreaktionen durch konditionierte Reaktionen, wie das Harlacher (1998) für die Elektrosensitivität detailliert beschrieben hat [3, siehe auch 1, 5–7].
Das gedankliche Bemühen von Umweltpatienten hat zum Ziel, unschädliche von schädlichen Einwirkungen zu unterscheiden und die schädlichen zu vermeiden. Es werden also in großem Umfang negative Attributionen erzeugt, indem bestimmte Situationen oder Auslöser mit negativen Erwartungen assoziiert werden. Hierdurch entsteht nicht nur ein in der Regel sehr ausgedehntes Vermeidungsverhalten, sondern auch konditionierte somatische Reaktionen, also eine Abhängigkeit der Symptomentstehung von der kognitiven Bewertung.
Der Gedanke an Negatives löst dann Reaktionen aus, der Gedanke an Positives nicht. Nicht die Gerüche, sondern die Assoziationen zu den Gerüchen sind es, die Reaktionen auslösen [7]. Die generalisierten Befindlichkeitsstörungen von Umweltpatienten können deshalb auch als getriggerter Abruf der ursprünglichen Primärsymptome verstanden werden.
Quelle: ZfU, 2000