Post von Amazone vom 06.02.2010, 18:10:37 auf S. 1 dieses Threads, betreffend die Leitlinien zu Somatoformen Störungen (hoch brisant!). Danke auch an Juliane.
Zitat:
"AWMF online
Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften
--------------------------------------------------------------------------------
Leitlinien Psychotherapeutische Medizin und Psychosomatik
Gemeinsame Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychotherapeutische Medizin,
Deutschen Gesellschaft für Psychonanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT),
des Deutschen Kollegium für Psychosomatische Medizin (DKPM) und
der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie (AÄGP)
--------------------------------------------------------------------------------
AWMF-Leitlinien-Register Nr. 051/009 Entwicklungsstufe: 2
--------------------------------------------------------------------------------
Leitlinie Somatoforme Störungen 9:
Umweltbezogene Körperbeschwerden
Vorbemerkung
Wichtiger Hinweis: Angaben zum methodischen Aufbau und zur "Evidenz"basierung dieser Leitlinie, zu Definition, Klassifikation und Beschreibungsdimensionen somatoformer Störungen sowie allgemeine Handlungsempfehlungen zur Diagnostik und Therapie nach Versorgungsebenen sind in der Leitlinie Somatoforme Störungen 1: "Somatoforme Störungen im Überblick" zusammengefaßt. Die vorherige Lektüre dieses Überblicks wird empfohlen.
Die Leitlinie mit zugehörigem Quellentext wird veröffentlicht in:
Henningsen P, Hartkamp N, Loew T, Sack M, Scheidt C: Somatoforme Störungen. Leitlinien und Quellentexte. Stuttgart: Schattauer, 2002.
Definition und Terminologie
Hinter dem Oberbegriff UKB verbergen sich eine Reihe von Entitäten, die auf spezifische Umweltagentien oder auf eine allgemeine, über einzelne Stoffe hinausgehende Überempfindlichkeit gegen Umweltstoffe verweisen. International am breitesten diskutiert werden gegenwärtig die "Idiopathic Environmental Intolerance" (IEI) bzw. das weitgehend synonyme "Multiple Chemical Sensitivity - Syndrom" (MCS) als Prototyp eines allgemeinen Überempfindlichkeitssyndroms, daneben auch das "Sick Building Syndrom" (SBS), amalgam-bezogene Beschwerden und die sog. elektrische Hypersensitivität. Im deutschen Sprachraum finden darüberhinaus Beschwerden, die auf Expositionen mit Holzschutzmitteln, Lösungsmitteln, Insektiziden und Schwermetallen bezogen werden, besondere Beachtung.
Umweltbezogene Körperbeschwerden (UKB) liegen vor, wenn:
1)der Betroffene über verschiedene körperlich attribuierte Beschwerden spezifischer (z.B. Schleimhautirritation) oder unspezifischerer Art (z.B. Müdigkeit) klagt
Zu den körperlich attribuierten, also Körperbeschwerden zählen hier auch psychische oder neuropsychologische Symptome wie Konzentrations- und Gedächtnisstörungen oder Depressivität. Sie werden von den Betroffenen regelmäßig nicht als "psychisch", also psychogen, sondern als Folge einer "neurotoxischen" oder anderen organischen Veränderung durch Umweltexpositionen angesehen.
2) er die Ursache dieser Beschwerden in der Umwelt sieht (z.B. Überempfindlichkeit gegen Chemikalien, Exposition mit Holzschutzmittel, mit Quecksilber aus Amalgam-Füllungen, Elektrosmog etc.) und mögliche psychische Hintergründe der Beschwerden ablehnt. Diese Ursachenattribution ist mit einem unterschiedlichen Maß an Ängsten hinsichtlich des weiteren Beschwerdeverlaufs speziell bei anhaltender Exposition und daraus resultierendem Vermeidungsverhalten verbunden
Die Diagnose der Umweltbezogenheit bezieht sich ausschließlich auf die Überzeugung des Betroffenen und ist unabhängig vom objektiven Nachweis einer Exposition, wird durch dessen Fehlen also auch nicht hinfällig.
3) er sich zur Abklärung dieser Beschwerden (wiederholt) an Ärzte, z.B. auch in sog. Umweltambulanzen, oder an andere Behandler wendet. Die klinische, umweltmedizinische, laborchemische Untersuchung erbringt aber keinen Nachweis einer Exposition, eines Kausalzusammenhangs zwischen Exposition und Ausmaß der Beschwerden und/oder von organisch begründbaren Erkrankungen, die die Beschwerden ausreichend erklären können (z.B. Allergie)
UKB sind derzeit nicht Gegenstand der ICD-10 - oder DSM IV - Klassifikation. Da sich hinsichtlich diagnostischem und therapeutischem Vorgehen relevante Überlappungen zu den somatoformen Störungen ergeben, werden sie an dieser Stelle in den Leitlinien abgehandelt.
Die von einigen Vertretern des Konzepts der Idiopathischen Umweltintoleranz (IEI) bzw Multipler Chemikalienüberempfindlichkeit (MCS) entwickelten biologischen Erklärungstheorien für die Überempfindlichkeit (u.a. sog. limbisches kindling) sind unbewiesen und von medizinischen Fachgesellschaften nicht akzeptiert. Eine pathogene Wirkung der minimalen über Amalgam-Zahnfüllungen aufgenommenen Quecksilber-Mengen kann als widerlegt gelten. Während für das MCS, für amalgam-bezogene Beschwerden wie auch für das SBS ein physikalisch-biologischer Kausalzusammenhang von Umweltagens und Beschwerden also prinzipiell strittig ist, ist dieser z.B. für Holzschutzmittel oder Schwermetalle für ausreichend hohe Expositionen nachgewiesen, strittig ist hier der Zusammenhang im Einzelfall.
Diagnostik
Allgemeine Diagnostik siehe Leitlinie Somatoforme Störungen 1.
UKB müssen differentialdiagnostisch abgegrenzt werden:
1) Von allgemeiner Umweltangst oder Umweltbesorgnis ohne erlebte Körperbeschwerden: durch die im Vordergrund stehenden Beschwerden. Umweltbesorgnis/ -angst ohne erlebte Beschwerden kann realitätsangemessen bis phobisch ausgeprägt sein.
2) Von paranoiden Psychosen mit Beeinträchtigungswahn: durch die zumindest kurzfristige Distanzierung von der Überzeugung und durch das Fehlen von Beziehungsideen (wer steckt dahinter, warum ich?)
Folgende deskriptive Besonderheiten der UKB grenzen sie von somatoformen Störungen ab:
1) Klagen über "psychische" bzw. "neuropsychologische" Beschwerden (Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen) sowie über Müdigkeit/Erschöpfung stehen im Vordergrund; seltener Klagen vorwiegend über Schmerzen
2) organische Ursachenattribution nicht im Körper, sondern in der Umwelt, häufig des Arbeitsplatzes
3) Sehr selten ist eine Objektivierung der vermuteten umweltbezogenen Beschwerdeursachen im Sinne eines toxikologischen Nachweises möglich (Wenn dagegen die Überzeugung/Befürchtung einer körperlichenorganischen Ursache in der organischen Abklärung in der Primärversorgung bei 10-20% eine objektive Bestätigung dieser Befürchtung).
4) Die Verlagerung auch der Befürchtungen nach außen kann zu einem ausgeprägten, oft phobisch anmutenden Vermeidungsverhalten führen.
5) Die organische Ursachenattribution wird nicht nur von vielen Heilpraktikern, sondern auch von einigen Wissenschaftlern konzeptuell unterstützt; es formieren sich Selbsthilfegruppen, die dem Bemühen der Betroffenen um eine Anerkennung ihrer organischen Ursachenattribution Nachdruck verleihen. In diesem Zusammenhang ist als wichtiger Unterschied zu phobischen Störungen nach ICD-10 zu berücksichtigen, daß das Vermeidungsverhalten häufig auf explizite Empfehlungen entsprechender Behandler bzw. Unterstützer zurückgeht ("Iatrogene Phobie bzw. Hypochondrie").
6) Es kommt zu lokalen und regionalen Häufungen einzelner Syndrome (z.B. amalgam-bezogene Beschwerden in Skandinavien und Deutschland, chemische Überempfindlichkeit in USA).
Unter Berücksichtigung der Kommunikationserleichterung mit dem Betroffenen wird empfohlen, UKB eigenständig als solche zu diagnostizieren - ggf. unter Verwendung relativ neutraler Termini wie z.B. der "Idiopathischen Umweltintoleranz" oder der "Umweltkrankheit".
Eine diagnostische Einordnung als somatoforme Störung (oder, bei starkem Überwiegen des Vermeidungsverhaltens, als Phobie) sollte gegenüber dem Patienten initial vermieden werden, da sie a) die subjektive Ursachenüberzeugung des Betroffenen übergeht und so in der Regel Widerstände weckt, b) die Besonderheiten der UKB auch in soziokultureller Hinsicht unterschlägt, c) wissenschaftlich nur in aufwendigen prospektiven Studien zu sichern ist und d) per se keine therapeutischen Vorteile bietet.
Die einfache Übernahme der meist von Patienten (und Heilpraktikern) angebotenen Termini, die wie "MCS" hinsichtlich der biologischen Ätiologieannahmen vorbelastet sind, sollte allerdings ebenfalls vermieden werden.
Da umweltbezogene Beschwerden fast nie auf eine objektivierbare Exposition zurückgeführt werden können, sollte - aus ökonomischen Gründen und v.a. wegen der viel höheren Akzeptanz durch den Betroffenen - schon beim ersten Kontakt regelmäßig eine simultane Erfassung psychischer Bedingungen/Belastungsfaktoren erfolgen.
Abklärung organischer/biologischer Faktoren nach den Leitlinien der Umweltmedizin: Expositionsanamnese, Biomonitoring, ggf. Umfeldmessungen.
Parallel soll die Abklärung individueller psychischer Faktoren erfolgen, u.a.:
1) Entstehung der subjektiven Erklärungstheorie (z.B. Einfluß von Arbeitskollegen, Medien, etc.; Prägung und Fixierung der Ursachenüberzeugung durch Vorbehandler, Selbsthilfegruppen, Sekten)
2) Ausprägung des Vermeidungsverhaltens (Ernährung, Umbauten in Wohnung/Haus, soziale Kontakte etc.)
3) Mögliche Entschädigungsforderungen
4) Hinweise auf psychische, insbesondere somatoforme Beschwerden oder Störungen vor Beginn der UKB
Parallel Abklärung überindividueller psychosozialer Faktoren:
1) Bei arbeitsplatzbezogenen Beschwerden: auf Arbeitsklima, -abläufe, -zufriedenheit etc. achten
2) Hinweise auf psychosoziale Beschwerdeausbreitung z.B. unter Arbeitskollegen
Obsolet:
1) Einbeziehung psychologischer Aspekte in die Diagnostik erst nach ergebnisloser Abklärung der möglichen biologisch/umweltmedizinischen Ursachen.
2) Diskussion über die teilweise verfestigten Ursachenüberzeugungen mit dem Patienten zu Beginn des Kontakts.
Therapie
Allgemeine Behandlungsempfehlungen siehe Leitlinie 1. Zu den bisherigen Ergebnissen der empirischen Therapieforschung siehe die "Evidenz"basierung.
4.1 Primärärztliche Behandlung
Die Zielsetzung "Beschwerdelinderung statt Heilung" ist in schwereren Fällen angemessen und für den Betroffenen akzeptabler, da sie im Erleben unabhängiger ist von der ggf. differenten Ursachenüberzeugung.
Zentraler Punkt ist die Beratung des Patienten hinsichtlich der Vermeidung anscheinend schädigender Umweltstoffe. Während gelegentliche kurzfristige Vermeidungen im Sinne der Angstminderung und Beziehungsstabilisierung sinnvoll sein können, ist dem Patienten mittel- und langfristig (in nicht-direktiver Form) zur Re-Exposition, zur Auseinandersetzung mit den anscheinend schädigenden Agentien zu raten.
Ist der Lebensstil des Betroffenen bereits umfassend um Vermeidungsverhalten herum organisiert (meist mit Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit einhergehend), ist das primäre Ziel der Behandlung die Verhütung weiterer Verschlimmerungen.
Obsolet:
Empfehlung zur ausgedehnten Vermeidung, wie sie von Anhängern des Konzepts der biologisch vermittelten Überempfindlichkeit bzw. Schädigung, z.B. von vielen Heilpraktikern, häufig ausgesprochen wird (sog. Ausleitungen von Quecksilber, Vermeiden von Nahrungsmitteln und chemischen Stoffen, Umbau des Hauses bis zu Umzug etc.). Die Wirksamkeit dieser Maßnahmen mit erheblichen psychischen, sozialen und finanziellen Folgen ist unbewiesen.
4.2 Psychotherapie
Gesicherte Fakten zu Ergebnissen von Psychotherapien bei Patienten mit UKB liegen bislang noch nicht vor.
Klinische Erfahrungen vor allem beim IEI/MCS rechtfertigen den Einsatz sowohl von behavioralen Techniken (stufenweise Desensibilisierung bzw. Expositionstherapie) wie auch von interpersonell bzw. konflikt-orientierten, nicht-urteilenden Ansätzen zur Beschwerdelinderung.
Bei entsprechendem Schweregrad ist ein stationärer Psychotherapieversuch indiziert. Allerdings stößt dessen Realisierung wegen des auch auf die Stations- "Umwelt" bezogenen Vermeidungsverhaltens der Betroffenen häufig auf Probleme.
4.3 Pharmakotherapie
1) Patienten mit UKB reagieren auf Pharmaka jedweder Art meist ablehnend.
2) Psychopharmaka sind in der Behandlung von UKB wegen mangelnder empirischer Wirkungsnachweise generell nicht indiziert.
"Evidenz"basierung
5.1 Psychotherapie
Exposition gegenüber dem als schädlich bzw. krankmachend angeschuldigten Umweltagens ist nach den EBM-Kriterien in der Behandlung von UKB möglicherweise wirksam (Bolla Wilson et al. 1988; Howard und Wessely 1993; Kasuistiken; EBM V).
Kognitive Verhaltenstherapie ist nach den EBM-Kriterien möglicherweise wirksam zur Behandlung der "Elektrischen Sensitivität" (Hillert et al 1998, RCT mit Wartelistenkontrolle und kleiner Fallzahl, EBM IV)
Einzelpsychotherapie mit kognitiv-behavioralen und psychodynamischen Elementen ist nach den EBM-Kriterein möglicherweise wirksam zur Behandlung von Idiopathischen Umweltintoleranz (IEI, Staudenmeyer 2000, Sammelkasuistik, EBM V)
Die Empfehlung zur weitgehenden Vermeidung von als schädlich angesehenen Agentien ist nach den EBM-Kriterien kontraindiziert (Black 1996, Howard und Wessely 1993, Sparks et al. 1994; Kasuistiken, EBM V).
5.2 Pharmakotherapie
Empirisch gesicherte Behandlungsempfehlungen gibt es derzeit nicht.
--------------------------------------------------------------------------------
Verfahren zur Konsensbildung:
Entwurf und Revisionen erstellt unter der Moderation von Prof. Dr. G. Rudolf, Psychosomatische Universitätsklinik Heidelberg, von einer redaktionellen Arbeitsgruppe (P. Henningsen, federführend; N. Hartkamp, T. Loew, M. Sack, C.E. Scheidt). Weitere Angaben zum Prozeß der Leitlinienerstellung siehe Leitlinie Somatoforme Störungen 1, Abschnitt 2.
Erstellungsdatum:
Verabschiedet von den Fachgesellschaften DGPM, DKPM, AÄGP und DGPT am 18. 05. 1999
Überarbeitung:
21. November 2001
Nächste Überprüfung geplant:
k.A.
Zurück zum Index Leitlinien der Dt. Ges. f. Psychotherapeutische Medizin
Zurück zur Liste der Leitlinien
Zurück zur AWMF-Leitseite
--------------------------------------------------------------------------------
Die "Leitlinien" der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften sind systematisch entwickelte Hilfen für Ärzte zur Entscheidungsfindung in spezifischen Situationen.
Sie beruhen auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und in der Praxis bewährten Verfahren und sorgen für mehr Sicherheit in der Medizin, sollen aber auch ökonomische Aspekte berücksichtigen.
Die "Leitlinien" sind für Ärzte rechtlich nicht bindend und haben daher weder haftungsbegründende noch haftungsbefreiende Wirkung.
Die AWMF erfasst und publiziert die Leitlinien der Fachgesellschaften mit größtmöglicher Sorgfalt - dennoch kann die AWMF für die Richtigkeit - insbesondere für Dosierungsangaben - keine Verantwortung übernehmen.
--------------------------------------------------------------------------------
Stand der letzten Aktualisierung: 21. November 2001
©: Dt. Ges. f. Psychotherapeutische Medizin (DGPM), Dt. Ges. f. Psychonanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT), Dt. Kollegium f. Psychosomatische Medizin (DKPM), Allgem. Ärztliche Ges. f. Psychotherapie (AÄGP)
Autorisiert für elektronische Publikation: AWMF online
HTML-Code aktualisiert: 21.06.2006; 13:27:54 "
Zitat Ende
Quelle:
http://www.uni-duesseldorf.de/http://www.AWMF/ll/051-009.htm