von Alex » Samstag 1. Oktober 2005, 18:32
Auch diese in einem Beitrag gebrachten Aussprüche sind von Tretter:
MCS” und die psychiatrische Differentialdiagnostik
Dr.med.Dr.phil.Dr.rer.pol.Felix Tretter, Bezirkskrankenhaus Haar (ISEM)
Zunächst ist in Hinblick auf die Logik der Diagnostik festzuhalten, daß ganz allgemein die Diagnose "psychosomatische" (oder: "psychiatrische") Störung bei Umweltpatienten zunächst nur hypothetischen Charakter hat.
...Sind nur schwache Indizien gegeben, dann ist nur eine psychiatrisch-psychosomatische Verdachtsdiagnose gerechtfertigt.
Grundsätzlich muß bei diesen Patienten auch unterschieden werden, ob es sich tatsächlich um eine primäre psychische Störung handelt, bei der die Umwelt das zentrale Thema ist, oder ob eine sekundäre Reaktion auf einen langjährigen (diffusen) Leidensprozeß mit erheblichen Alltagsproblemen und Störungen der sozialen Interaktion (auch mit Ärzten) vorliegt.
Zu beachten ist nämlich, daß Patienten, die aufgrund der mangelnden somatischen Befundlage als "psychosomatische Fälle" eingestuft werden, sich in der Folge nicht angenommen fühlen und mit Abwehr reagieren und sich der Alternativmedizin - die häufig einen einfühlsameren Umgang mit dem Patienten zeigt zuwenden. Schließlich, so läßt sich das bei langjährigen Patientenkarrieren feststellen, tritt eine starre, verbitterte Haltung gegenüber der institutionalisierten klassischen Medizin auf.
Prinzipiell stellt sich auch die Frage, ob es sich um "alte psychische Krankheiten in neuen Gewand" handelt.
Das könnte bedeuten, daß bei bekannten psychischen Störungen die Wahl des Themas bzw. Inhalts, worauf die gedankliche Verarbeitung (oder Produktion) der Störung bezogen ist, das aktuelle Thema "Umwelt" betrifft. In dieser Situation würden sich dann Kategorien wie "Umwelthysterie", " Umwelthypochondrie" oder gar "Öko-Wahn" diagnostisch anbieten (vgl. Der Spiegel 1995). Es fragt sich also, ob die klassische Hysterie, die wir heute immer weniger sehen, durch ein "umwelthysterisches Syndrom" verdrängt wird, oder ob Menschen, die von der Giftigkeit des Amalgams ihrer Zahnfüllungen überzeugt und bestürzt sind, eine neue Form der Phobie, nämlich die "Amalgamphobie" aufweisen (vgl. Häfner 1994) ? Weitergedacht wären dann Menschen, die sich von Holzschutzmitteln geschädigt fühlen "Lösemittel-Hypochonder".
Es wirft sich schließlich die Frage auf, welche der Wirkungsmodelle bei diesen Patienten zutreffend sind.
Psychiatrisch-psychosomatische Kategorien ohne fundierte Begründung anzuwenden ist auch sozial äußerst problematisch, weil sie von den Betroffenen als diskriminierend wahrgenommen werden und die mit der Diagnose verbundene Therapieempfehlung auch nicht akzeptieren. Die Diagnosekriterien scheinen bei einigen Patienten nicht zuzutreffen.
Eine umweltmedizinische Diagnostik muß zusätzlich neben dem Biomonitoring der vermuteten Schadstoffe auch ggfs. eine Umweltanalytik im Wohnbereich oder an anderen Orten aufweisen. Bei negativen Befunden ist eine psychiatrische Verdachtsdiagnose gerechtfertigt. Diese Diagnose bleibt aber hypothetisch, bis eine psychiatrische Bestätigungsdiagnostik erfolgt ist. Sie muß folgende Elemente aufweisen:
psychiatrische Exploration mit qualitativen Tests
Anamnese psychosozialer und biographischer Aspekte
psychopathologischer Befund (Wahrnehmung, Denken, Gedächtnis, Affektivität, Antrieb, Ich-Funktionen usw.)
Beurteilung der Persönlichkeit
Beziehungsdiagnostik (vom Arzt erlebte Anspruchshaltung, Vorwurfshaltung usw. des Patienten)
Klassifikation des Syndroms ( Wahnsyndrom, Angstsyndrom etc.)
Diagnose u. Differentialdiagnose nach Kriterien der ICD-10 und/oder des spezifischeren DSM-III-R
Quantitative Befindlichkeitsdiagnostik evtl. durch Befindlichkeitsskalen, wie die Bf-S von v. Zerssen (vgl. Bullinger 1992).