"Ursachen der erhöhten Mortalität
1. Wahrscheinlich sind unter anderem plötzliche Rhythmusstörungen, sogenannten Torsades de Pointes (TdP), infolge Verlängerung der QT-Zeit6 (oberer Normwert 440 ms, TdP-Risiko ab 500 ms) für die erhöhte Mortalität verantwortlich (Witchel et al. 2003). Diese QT-Zeit verlängert sich:
– mit der Höhe der neuroleptischen Dosis (Bratlet et al. 2000; Ray et al. 2001),
aber auch schon mortalitätsfördernd bei niedrigen Dosierungen (Straus et al.
2004; Ray et al. 2001); durch
– Kombinationsbehandlungen: Antidepressiva (trizyklische und tetrazyklische
Antidepressiva, SSRI7, Venlafaxin, Lithium und weitere internistische
Medikation (z.B. Antibiotika, Antiarrhythmika, Antihistaminika,
Vasodilatatoren);
– erniedrigtes Kalium, Magnesium, Kalzium;
– kardiale Vorerkrankungen;
– Bradykardie;
– höheres Risiko bei Frauen;
– höheres Alter;
– Basis-QT-Zeit über 460 ms.
Risikofaktoren sind
- Synkopen in der Vorgeschichte,
- Familienmitglieder mit langem QT-Intervall,
- Angehörige mit plötzlichem Herztod.
Es gibt auch plötzliche Todesfälle ohne verlängerte QT-Zeit. Sie ist kein sicherer Prädiktor.
Komedikation mit Anticholinergika scheint das Mortalitätsrisiko eher wieder zu senken (Waddington
1998).
Alle Typika (am stärksten Thioridazin/Melleril®) und Atypika können die QT-Zeit verlängern, am
geringsten vermutlich Olanzapin und Quetiapin, die wiederum höhere metabolische Risiken haben.
Ist die erhöhte Mortalitätsrate zumeist auf den plötzlichen Herztod zurückzuführen?
Hierzu folgende Berechnung:
- Plötzliche Todesfälle in Normalbevölkerung: 0,7/1000 Individuen/Jahr
(Glassman et al. 2001).
- Steigerungen durch 2er-Kombinationstherapien auf relatives Risiko von 5
(Joukama).
- Risiko plötzlicher Todesfälle unter Kombinationstherapie mit 2 Neuroleptika:
0,7 x 5 = 3,5/1000 = ca. 0,35/100/Jahr = 10/100 in 30 Jahren.
- abzüglich 2/100/30 J plötzliche Tode in Normalbevölkerung ergibt 8 Tote durch
plötzlichen Herztod infolge auch nur zeitweiser Kombinationsbehandlung bei
100 Patienten (8%) in einem Zeitraum von 30 Jahren.
Weitere Todesursachen sind dabei nicht berücksichtigt. Es wird deutlich, dass plötzlicher Herztod
nicht ausreicht, um die zusätzliche Mortalitätsrate zu erklären.
2. Weil die durch Neuroleptika bedingte Mortalität nicht allein auf TdP zurückzuführen ist, greifen Studien, die allein Todesfälle durch plötzlichen Herztod erheben zu kurz. Die finnische Studie ermittelte zum Beispiel bereits unter Typika eine mit der Anzahl der Neuroleptika korrelierende Abnahme des HDL. Aber auch Tode durch venöse Thrombosen mit pulmonalen Embolien
(Thomassen et al. 2001) und Asthma (Joseph et al. 1996) sind auch neuroleptikainduziert. Clozapin hat ein zusätzliches Mortalitätsrisiko (Henderson et al. 2005) durch Verursachung von Kardiomyopathien und Myokarditis und metabolischen Störungen einschließlich Diabetes (Walker er al 1997, Henderson et al 2005).
3. In einer Untersuchung von 689 Patienten der CATIE-Studie wird bei 43% der Fälle (bei 54% der Frauen und 37% der Männer) ein metabolisches Syndrom (MS) unter Atypika diagnostiziert (McEvoy et al. 2005). Andere kleinere Untersuchungen bestätigen fast identische Raten, auch in der Altersgruppe unter 45 Jahren (Cohn et al. 2004). Im Vergleich mit der Normalbevölkerung ist damit
die Prävalenz des MS etwa doppelt so hoch. Ebenfalls ist damit die Häufigkeit des MS in naturalistischen Studien deutlich höher als in den industrieabhängigen (McEvoy et al. 2005). Das Risiko für ein MS unter Atypika steigt bei Männern um mehr als das 2-Fache (OR 2,29) und bei Frauen um mehr als das 3-Fache (OR 3,18) (McEvoy et al. 2005). Bereits 1979 wurde eine norwegische Studie mit erhöhter kardiovaskulärer Mortalität seit Einführung der Neuroleptika (Typika) publiziert (Saugstad/Odegard 1979). Auch unter Typika haben Frauen ein signifikant erhöhtes Risiko für Übergewicht.
Symptome des metabolischen Syndroms sind abdominelle Gewichtzunahme (Kernmerkmal), Trigyceriderhöhung, HDL-Erniedrigung, Erhöhung des Nüchtern-Blutzuckers, Diabetes, Hypertonus (Newcomer 2005). In ca. 25% tritt Diabetes durch Atypika auch ohne vorherige Gewichtszunahme durch direkte Wirkung auf den Insulinstoffwechsel auf. Die Prävalenz von Diabetes unter Atypika liegt bei 14%, 4-fach höher als in der Allgemeinbevölkerung. Wesentliche Ursachen des MS sind Neuroleptika, aber auch falsche Ernährung und
Bewegungsmangel. Vor Beginn einer Schizophrenie haben männliche Betroffene einen geringeren BMI (Body-Mass-Index) als nicht Erkrankende (Weiser et al. 2004).
Folgen des metabolischen Syndroms:
Eine skandinavische Studie ermittelt bei Vorliegen eines MS in der Allgemeinbevölkerung ein dreifach erhöhtes Risiko für koronare Herzerkrankungen und Schlaganfälle und eine mehr als 5-fach erhöhte kardiovaskuläre Mortalität innerhalb von (im Mittel) 6,9 Jahren (Isomaa et al. 2001). Unter Atypika beginnt das MS zusätzlich in sehr viel früherem Alter. In einer Verlaufsstudie über 13 Jahre (1981-1994) sind vaskuläre Erkrankungen mit 47% bereits die häufigste Todesursache unter Typika (Brown et al. 2000) und bereits zwischen 1976-1995 in Stockholm bei Männern mit Schizophreniediagnose um das 4,7fache und bei Frauen um das 2,7fache
angestiegen (Ösby et al 2000). Die metabolischen Veränderungen durch Atypika verdoppeln nach heutiger Erkenntnis das 10-Jahres-Risiko für koronare Herzerkrankungen: Angina pectoris, Myokardinfarkt, plötzlicher Herztod (Correll et al. 2006). Weitere Gefäßerkrankungen und Diabetes mit seinen noch häufigeren kardiovaskulären u.a. Komplikationen und vermehrte Altersdemenzen
kommen natürlich hinzu. Die zu erwartende Einnahmedauer der Neuroleptika ist in den meisten Behandlungen sehr viel länger.
Trigyceriderhöhung und abdominelles Übergewicht sind die wesentlichen Prädiktoren. Darüber hinaus gibt es eine weitere das Mortalitätsrisiko erhöhende Interaktion zwischen kardialen Erkrankungen und TdP durch Neuroleptika.
4. Mortalität durch Suizid:
Die Gesamtmortalität durch Suizid liegt bei Menschen mit Schizophrenie-Diagnose zwischen 4% und 13%. Im Mittel geht man von 10% aus (Inskip et al. 1998; Metzer 1998). Nach der ersten psychotischen Episode ist der Suizid die Haupttodesursache und im ersten Jahr besonders häufig (Mortensen et al. 1993). Die Dunkelziffer vor allem in Kliniken ist hoch (Finzen 1988). Eine nationale
finnische Erhebung ermittelt eine 37-fach erhöhte – jedoch insgesamt mit 1,2% niedrige – Suizidrate bei schizophren diagnostizierten Patienten in den ersten 3,5 Jahren nach der ersten Episode, die Neuroleptika eigenmächtig abgesetzt haben (26 vs. 1 Suizid bei einer Gesamtkohorte von 2230 Ersterkrankten). 38% der Patienten setzten bereits innerhalb des ersten Monats nach der Entlassung die Neuroleptika ab. Historisch ist die Suizidrate seit Einführung der Neuroleptika bei einem Vergleich
mit der kustodialen vor-neuroleptischen Psychiatrie in Wales (1875-1924) um das 20-Fache (Healey et al. 2006), in den USA seit 1950 um das 8-Fache gestiegen (Farberow et al. 1978). Auch eine norwegische Erhebung bestätigt einen Anstieg der Mortalität durch Suizid und Unfälle seit Einführung der Neuroleptika (Saugstad/Odegard 1979). Die erhöhte Suizidrate seit Anwendung der Neuroleptika liegt wahrscheinlich
(1) in den veränderten Versorgungsstrukturen mit therapeutischer Diskontinuität und unangemessenen, nicht bedürfnisgerechten Therapieprozessen (Finzen 1988),
(2) in pharmakogenen Effekten durch und nach Neuroleptika, z.B. Neuroleptika induzierte Depressivität, Dysphorie und Akathisie (Lehmann 1996,2002), „neuroleptisches Diskontinuitätssyndrom“ mit Reboundeffekten (Gilbert et al. 1995; Tranter et al. 1998), Intensivierung von Psychosen nach Neuroleptikabehandlung (upregulation), sowie
(3) gesamtgesellschaftlichen Prozessen mit z.B. beruflicher und sozialer Ausgrenzung, Vereinsamung
und Stigmatisierung begründet.
(4) Auch frühe Anerkenntnis einer psychiatrischen Diagnose 6 Monate nach der ersten psychotischen Episode bedingt erhöhte Depressivität und zumindest signifikant mehr Suizidversuche (Crumlish et al. 2005).
(5) Selbstverständlich sind auch intrapsychische, biografische, sozialkontextuelle und Krankheitsverarbeitungsaspekte von wesentlicher Bedeutung.
Vor allem ist aber davon auszugehen, dass das heute allgemein vorherrschende Behandlungsmodell mit Standardneuroleptisierung ohne wesentliche Mitentscheidung des Patienten in Verbindung mit struktureller und personeller Diskontinuität unverändert hohe Non-Compliance-Raten aufrechterhält.
Den Patienten bleibt wenig Spielraum zu Behandlungsversuchen ohne Neuroleptika oder begleiteten Absetzversuchen, sodass Behandlungsabbrüche mit Anstieg der Suizide die Folge sind. Patienten Medikamente aufzuzwingen, die sie außerhalb der Kontrolle mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder absetzen, birgt offensichtlich lebensgefährdende Risiken.
In finnischen Modellregionen mit selektiver Neuroleptikatherapie traten keine Suizide in der Gruppe der neuroleptikafrei behandelten Patienten auf."
Zitate aus
http://www.meinungsverbrechen.de/wp-content/uploads/2011/08/Mortalit%C3%A4t_durch_Neuroleptika.pdf