Placebos: Wirkung ohne Wirkstoff

Placebos: Wirkung ohne Wirkstoff

Beitragvon Kira » Freitag 29. Oktober 2010, 08:25

http://www.saarbruecker-zeitung.de/sz-berichte/saarbruecken/Placebos-Wirkung-ohne-Wirkstoff;art2806,3461393

Placebos: Wirkung ohne Wirkstoff
Viele Medikamente helfen allein deswegen, weil wir an sie glauben

Saarbrücken. Es gibt Medikamente, die wirken gegen (fast) alles, doch sie enthalten nichts. Solche Arzneien ohne Wirkstoff nennen Mediziner Placebos. Für die Forschung sind sie ein Rätsel. Denn obwohl sie nach medizinischen Maßstäben keine Effekte haben dürften, helfen sie oft besser als echte Pillen.
Placebo-Effekte haben neuseeländische Forscher auch in alltäglichen Versuchen beobachtet: Schon ein kleiner Drink kann bei vielen Menschen einen Schwips verursachen - selbst wenn das Getränk keinen Alkohol enthält. Es genügt, dass wir an die Wirkung des Alkohols glauben. Ähnliches gilt für Herzrasen und Kaffee. Empfindliche Menschen klagen über Unruhe - auch wenn sie koffeinfreien Kaffee trinken. Ein Schwips ohne Alkohol, Herzrasen ohne Koffein sind nur zwei Beispiele für den Placebo-Effekt. Der lateinische Begriff bedeutet \"Ich werde gefallen\". Bis zu 60 Prozent der Wirkung von Arzneimitteln geht auf den Placebo-Effekt zurück, schätzt Professor Dr. Manfred Schedlowski, Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie am Uniklinikum Essen. \"Rechnen die Patienten mit einer bestimmten Wirkung, tritt diese voraussichtlich auch ein\", so der Placebo-Forscher.

Beispiel Schmerzmittel: Sie wirken oft nur schwach, wenn die Patienten nicht wissen, was sie bekommen. Erfährt der Patient aber, dass er ein im Medizinerdeutsch Analgetikum genanntes Mittel bekommt, wirkt es viel stärker. Auch der Preis spielt eine Rolle. Es gibt Studien, in denen Patienten von stärkerer Schmerzlinderung berichten, wenn sie ein teures Medikament oder ein Markenpräparat bekamen.

Preiswertere Pillen fielen in den Tests durch - dabei hatten beide Patientengruppen nur ein Scheinmedikament geschluckt.

Die schmerzlindernden Effekte des Glaubens können Ärzte sogar mittlerweile mit bildgebenden Verfahren im Hirn sichtbar machen. Sind Patienten überzeugt, dass sie ein Schmerzmittel erhalten, schütten bestimmte Regionen des Gehirns Endorphine aus, das sind körpereigene Schmerzkiller. Die Erwartungshaltung beeinflusst Patienten mitunter sogar so stark, dass sie die Wirkung von Medikamenten umdrehen kann. Beispiel Asthma: Bestimmte Wirkstoffe verengen die Bronchien und verschlimmern damit die Beschwerden der Patienten, andere Medikamente erweitern die Atemwege und lindern Anfälle. Kündigten Ärzte an, ein Mittel zu geben, dass die Bronchien erweitert, ging es vielen Patienten auch dann besser, wenn das Medikament den entgegengesetzten Effekt hatte.

Es gibt jedoch nicht nur Scheinmedikamente, sondern auch viel tiefer gehende Therapien, zum Beispiel Operationen, die diesen Effekt haben können. Patienten mit Gelenkbeschwerden ging es nach Scheinoperationen, bei denen Chirurgen lediglich ihre Haut ritzten, genauso gut wie Kranken, bei denen die Ärzte tatsächlich eine Gelenkspiegelung vorgenommen hatten. Ähnliches gilt für Akupunktur, die wirksam Schmerzen lindern kann, selbst wenn die Therapeuten die Nadeln wahllos setzen, statt sich an die traditionellen Energiepunkte zu halten.

Wie genau der Placebo-Effekt entsteht, ist nicht bekannt. Neben der Erwartung der Patienten beeinflusst vor allem das Verhältnis zwischen Therapeuten und Patienten den Placebo-Effekt, erklärt Schedlowski: \"Je vertrauensvoller die Beziehung zwischen Arzt und Patient ist, desto stärker wirkt der Placebo-Effekt.\" Im Klartext heißt das: Ärzte müssen wieder mehr mit ihren Patienten reden und sich Zeit nehmen. Denn Vertrauen kann nicht nur Placebos wirksam machen, sondern auch die Wirkung echter Medikamente verstärken.

Nach einer aktuellen Studie an der Medizinischen Hochschule Hannover gehören Scheinmedikamente zum festen Bestandteil des therapeutischen Repertoires in Krankenhäusern. Ein Forscherteam befragte 180 Ärzte und Pflegekräfte, ob und wie oft sie zu Placebos greifen. 53 Prozent der befragten Ärzte und 88 Prozent der Pfleger erklärten, dass sie schon Scheinmedikamente eingesetzt haben - meist gegen Schmerzen oder Schlaflosigkeit. Allerdings geschah dies nur selten: Weniger als zehn Prozent gaben an, Placebos ein- bis zweimal pro Woche zu nutzen.

Ärzte, die Placebos einsetzen, stecken in einem ethischen Dilemma. Sie müssen ihre Patienten über die Therapie aufklären. Verraten sie aber einem Kranken, dass er ein Scheinmedikament erhält, bleibt die Wirkung aus. Häufiger als echte Placebos kommen deshalb \"Pseudo-Placebos\" zum Einsatz, vermutet Professor Dr. Bruno Müller-Oerlinghausen, Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Das sind Medikamente, deren Wirksamkeit so schwach ist, dass sie weitgehend auf dem Placebo-Effekt beruhen. Dazu gehören manche Naturheilmittel, aber auch homöopathische Arzneien. \"Etwa sieben Prozent aller verordneten Arzneimittel sind in ihrer Wirkung umstritten\", erklärt Professor Dr. Ulrich Schwabe, Emeritus am Pharmakologischen Institut der Universität Heidelberg und Mitherausgeber des Arzneiverordnungs-Reports. Garantiert wirkstoffrei sind schließlich Placebo-Medikamente, die in Apotheken verkauft werden. Über deren Marktanteile und Umsätze lassen die Hersteller nichts verlauten. Nach Aussage des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte sind derzeit sieben zugelassene Präparate im Handel.

Von SZ-Mitarbeiterin Julia Bidder


- Editiert von Kira am 29.10.2010, 08:26 -
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Placebos: Wirkung ohne Wirkstoff

Beitragvon Juliane » Freitag 29. Oktober 2010, 08:37

Die FR berichtete kürzlich:


"Wirkung von Scheinmedikamenten
Auch der Glaube heilt

Placebo-Effekte sind keine Magie, sie lassen sich durch hirnphysiologische Messungen nachweisen und naturwissenschaftlich erklären. Schuld hat offenbar ein Botenstoff des Gehirns, ein Neuropeptid namens „Endogenes Morphium“.

Placebos können wie ein Medikament wirken. Viele Krankenschwestern im Zweiten Weltkrieg wussten das. Wenn in den Lazaretten die Schmerzmittel ausgingen, spritzten sie den Schwerverwundeten einfach eine Kochsalzlösung und sagten, es sei Morphium. Oft verschwanden dann die Schmerzen, wenn die Leidenden glaubten – erwarteten – sie erhielten ein hochpotentes Schmerzmittel. Das Placebo hatte gewirkt.

Wie aber kommt diese mysteriöse Wirkung zustande? Neurobiologen und Psychologen sind den Ursachen des Phänomens auf die Spur gekommen. Schuld hat offenbar ein Botenstoff des Gehirns, ein Neuropeptid namens „Endogenes Morphium“ oder abgekürzt „Endorphin“. Die Endorphine wirken – genau so wie Morphin – Schmerz mindernd, wenn sie im Gehirn freigesetzt werden, so beispielsweise bei akutem Stress, aber auch – überraschend – nach einer emphatisch und mit Überzeugung verabreichten Placebogabe. Und: Sie binden im Gehirn exakt an dieselben molekularen Strukturen wie Morphium und andere Opiate.

Diese Bindungsplätze, die sogenannten Opioid-Rezeptoren, können durch Opioid-Antagonisten wie Naloxon blockiert werden. Damit heben sie die Wirkungen auf, die durch Opiate und endogene Opioide wie Endorphin verursacht werden – bezeichnenderweise also auch die Schmerz stillenden Wirkungen von Placebos.

Scheinmedikamente, also „Zuckerpillen“, die keine pharmakologisch wirksamen Substanzen enthalten, kamen in der Medizin zu allen Zeiten immer wieder zum Einsatz. Werden diese Zaubermittel vom Arzt mit der Bemerkung verabreicht, sie wirkten Wunder, so erfahren über 50 Prozent der Schmerzpatienten eine mehr oder weniger starke Schmerzlinderung. ........


Anscheinend wird bei der „Placeboanästhesie“ die Schmerzwahrnehmung bereits am Übergang von den Hautnerven ins Rückenmark gestoppt, folgerten die Hamburger Schmerzforscher. Entscheidend für diese Placebowirkung – die „Placeboanalgesie“ – war allerdings, dass die Probanden daran glaubten und deshalb eine Schmerzlinderung erwarteten.

Wie mit bildgebenden Methoden gezeigt, wurde dabei vor allem der direkt hinter der Stirn gelegene präfrontale Kortex und insbesondere dessen obere (dorsolaterale) Region aktiviert. Es handelte sich also um einen Bereich, von dem man annimmt, dass er Wahrnehmungsinhalte bewertet, mit Bedeutung versieht und andere, untergeordnete Gehirnteile kontrolliert, beispielsweise das Limbische System.

Deswegen vermuteten die Placeboforscher im Stirnhirn die primäre Ursache für die durch Placebos bedingte Schmerzhemmung und die Veränderungen in der Schmerzmatrix. Der Turiner Neurobiologe Fabrizio Benedetti bringt es auf den Punkt: „Ohne präfrontale Kontrolle keine Placebowirkung.“ Der Beweis: Mit Hilfe eines sogenannten Magnetstimulators gelang es kürzlich Züricher Forschern, gewisse Funktionen des Stirnhirns gezielt zu hemmen, und dies blockierte, nicht unerwartet, auch den Placeboeffekt, die Schmerzlinderung.

Der Effekt war reversibel. Das von Georg Schönbächler und Kollegen angewandte Verfahren – die sogenannte „repetitive transkranielle Magnetstimulation – hatte somit die gleiche Wirkung wie die Verabreichung des Opioidantagonisten Naloxon. Und das Verblüffende dabei: Solange das Reizgerät nicht eingeschaltet war, wirkte es wie ein Placebo, vorausgesetzt die Versuchsperson glaubte, es hemme den Schmerz. Placeboeffekte sind also keine Magie, sie lassen sich auf hirnphysiologische Prozesse zurückführen und so neurobiologisch bzw. naturwissenschaftlich erklären.

Nach wie vor forschen Neurobiologen ernsthaft und intensiv über Placebos, und dies nicht zuletzt, um dazu beizutragen, die breite Kluft zwischen „Schulmedizin“ und „komplementärer Heilkunde“ zu überbrücken. "

Hier geht es zum Volltext:


http://www.fr-online.de/wissenschaft/auch-der-glaube-heilt/-/1472788/4767792/-/index.html
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Placebos: Wirkung ohne Wirkstoff

Beitragvon Clarissa » Freitag 29. Oktober 2010, 09:01

Erstaunlicherweise gibt es aber auch zugelassene Placebo-Präparate frei verkäuflich in der Apotheke. Dazu gehören Placebo-Tabletten, Zäpfchen und Dragees. Wer auf dem Beipackzettel sucht, wogegen diese Mittel helfen sollen, wird solche Informationen nicht finden.

Quelle: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/sprechstunde/1303494/
Und allen Leugnern zum Trotz, im DIMDI
ICD-10-GM Version 2018 - Stand Oktober 2017 ist MCS immer noch im Thesaurus unter
T 78.4 zu finden und wirklich nur dort und an keiner anderen Stelle!
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Beitragvon Clarissa » Freitag 29. Oktober 2010, 09:08

Und allen Leugnern zum Trotz, im DIMDI
ICD-10-GM Version 2018 - Stand Oktober 2017 ist MCS immer noch im Thesaurus unter
T 78.4 zu finden und wirklich nur dort und an keiner anderen Stelle!
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Placebos: Wirkung ohne Wirkstoff

Beitragvon Juliane » Freitag 29. Oktober 2010, 16:19

Aus was die wohl hergestellt werden, Clarissa?
Vermutlich aus Milchzucker.

Ja, das zeigt dann bei 20% der Bevölkerung garantiert eine Wirkung.
Wenn auch vielleicht nicht die erwünschte.

Die hier z.B. ist so ein Lactose-Tablettchen:


Placebo-Tabletten 750mg oval l 17mm unarzneiliche

Aus Lactose 750 mg/Tablette, Länge 17 - 17,2mm, Breite 8 - 8,2mm, weiß, ohne Bruchkerbe, vom Hersteller chemisch analytisch geprüft.

Zur Herstellung eigener (z. Bsp. homöopathischer) Mittel oder als Placebo.

Lieferung in Dose mit Schraubdeckel.

Diese unarzneilichen Tabletten werden nicht als Medikament eingestuft und sind somit nicht apothekenpflichtig!

http ://wir-helfen-heilen.com/shop/category_89befd1102aeaead24cfe2b9fa9997f9/Kapseln-%2B-Tabletten-unarzneiliche.html?shop_param=cid%3D%26
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