AGnES kommt
" "Auf dem Land" - das ist hier. In Uengsterode im Werra-Meißner-Kreis gibt es viel Fachwerk, Bauernhöfe und hügelige Landschaft. Ein paar Kilometer weiter, am Hohen Meißner, sind die Baumwipfel Anfang März noch weiß gepudert. Vor einem Stall im Dorf dampft ein Misthaufen. An ihm vorbei fährt Margit Harms zu ihrem ersten Hausbesuch des Tages. Arthur und Ingeborg H., beide 81 Jahre alt, erwarten die Arzthelferin bereits.
Die Eheleute sind Patienten der Gemeinschaftspraxis, für die Harms arbeitet. Die Fünf-Kilometer-Distanz bis dorthin, ins Städtchen Großalmerode, ist für sie kaum zu überwinden. Arthur H. ist chronisch krank und kann sich nur noch wenig bewegen. Seine Blutwerte sollen regelmäßig kontrolliert werden. Dafür kommt die mobile Praxishelferin zu ihm.
Margit Harms (53) macht schon seit Jahren Hausbesuche für die Großalmeröder Praxis. Inzwischen sind sie Teil eines Konzepts für integrierte Versorgung, das das Ärztebündnis Werra-Meißner erarbeitet hat. Mit der Barmer Ersatzkasse wurde 2007 ein Vertrag dazu geschlossen. Insgesamt sieben Helferinnen fahren für 13 Praxen über Land, sagt Jan Purr, Harms' Chef und Vorsitzender des Ärztebündnisses. Die Frauen nehmen Blut ab, messen Blutdruck und -zucker oder wechseln Verbände - Aufgaben, die kein Mediziner übernehmen muss.
Ich würde ständig mein Zeitbudget sprengen", sagt Purr. Zwar wachse die Zahl der Patienten nicht - wohl aber das nötige Maß an Versorgung. "Die Leute werden älter und kränker älter", weiß der Allgemeinmediziner. "Und hier auf dem Land haben die Älteren die Tendenz, ihre Krankheiten zu vernachlässigen." Die Hausbesuche sieht er als "Feuerlöscher und Frühwarnsystem". Die Helferinnen machen Termine aus. Ihr Einsatz wird dokumentiert, der Arzt informiert - im Notfall sofort per Telefon. Harms betont: "Der Doktor ist immer parat, wenn man sich nicht sicher ist."
Was vor Ort anliegt, ist nie ganz vorhersehbar. "Alles was kommt, wird bearbeitet", sagt Margit Harms. Oft bringt sie bestellte Medikamente aus der Apotheke mit. Und stets hat sie die Verbandstasche dabei, auch wenn nur eine Blutentnahme ansteht wie in Uengsterode. Prompt wird die benötigt: Herr H. hat eine Wunde am Fuß. Seine Frau fragt sich, ob sie sie richtig versorgt. "Lassen Sie den Verband lieber nachts dran", rät die Arzthelferin. Sie zeigt, welches Spray die 81-Jährige verwenden soll und wie alles angelegt werden muss. Arthur H. gibt vor, er sei kitzlig. Alle drei lachen.
Harms kommt gut an. Auch ein Dorf weiter, wo sie Willi R. am Küchentisch Blut abnimmt. Ihre Kollegin melde sich morgen mit den Ergebnissen, kündigt sie an. Ein neuer Termin wird gleich in den Wandkalender eingetragen. Dann geht die Fahrt weiter. Bis zu zwölf Stunden pro Woche ist die 53-Jährige unterwegs: "Es macht mir sehr viel Freude. Ich kenne die Leute schon so lange ich hier bin." Die Verbundenheit - auch zwischen Helferin und Arzt - schafft Vertrauen. "Ich würde kein Küken losschicken", versichert Jan Purr. Alle mobilen Praxishelferinnen seien "gestandene Frauen".
Krankenkassen freilich wollen Qualität auch messen können und achten auf standardisierte Abläufe. Deshalb wurden Ausbildungsanforderungen definiert, Checklisten und Besuchs-Protokolle entwickelt. Die Barmer würde gern wissen, ob die Hausbesuche helfen, Klinikeinweisungen zu vermeiden. Eine Evaluation, die das belastbar belegt, habe der Daten-Rücklauf aus dem Werra-Meißner-Kreis bisher noch nicht erlaubt, sagt Christian Graf, Abteilungsleiter für Versorgungsmanagment bei der Barmer. Positiv sieht er das Projekt trotzdem. Über einen neuen Vertrag soll in Kürze entschieden werden.
Das Modell AGnES soll nach einer mehrjährigen Erprobungsphase in Ostdeutschland jetzt bundesweit in dünn besiedelten Gebieten zum Einsatz kommen. ("AGnES" steht für: arztentlastende, gemeindenahe, E-Healthgestützte, systemische Intervention.)
Auf Anweisung des Hausarztes berät und betreut eine qualifizierte Krankenschwester immobile Patienten in deren eigenen vier Wänden. In Mecklenburg- Vorpommern ist die Schwester sogar mit Laptop und Bildtelefon ausgestattet. Die Vergütung dieser Hausbesuche wurde jüngst im Rahmen der Pflegereform verankert. "
http://www.fr-online.de/frankfurt_und_hessen/nachrichten/hessen/1707201_Mobile-Arzthelferinnen-in-Nordhessen-Zur-Blutabnahme-bitte-an-den-Kuechentisch.html