Kunden-Rezension auf Amazon
geschriben von S. Lindner
"not found in nature", 9. April 2010
Rezension bezieht sich auf: Das Maiglöckchen-Phänomen: Alles über das Riechen und wie es unser Leben bestimmt (Gebundene Ausgabe)
Maiglöckchen enthalten, wie GC/MS-Analysen zeigen, die Duftstoffe Citronellal, Citronellol, Citronellylacetat, Geranylacetat, Nerol, Geraniol, 2-Phenylethylalkohol, Benzylalkohol, cis-3-Hexenylacetat, cis-3-Hexenol, Benzylcyanid, cis-3-Hexenal, Alkylmethoxypyrazine sowie ß-Ionon. Sowie den berüchtigten Giftstoff Convallatoxin, ein Herzglykosid. Jedoch kein Bourgeonal (3-(4-tert-butylphenyl)propanal) oder ähnliches.
Maiglöckchenduft lockt Spermien zur Eizelle, so macht uns Prof. Hanns Hatt glauben. In einem Akt wissenschaftlicher Effekthascherei verschweigt er uns, daß der Titel seines Buches auf einer Dreistigkeit beruht: Bourgeonal, die von ihm benutzte Chemikalie, wird von "The Good Scents Company" (einer Institution auf diesem Gebiet, mit präzisen Informationen zu über 6.000 Riechstoffen) als "not found in nature" klassifiziert! Mit anderen Worten: der Stoff Bourgeonal mag zwar im Geruch entfernt an Maiglöckchen erinnern, kommt aber in Maiglöckchen nicht vor.
Was hat Prof. Hatt dann gefunden? Nichts als eine chemische Reaktion zwischen einer industriell hergestellten Chemikalie und einem Biorezeptor! Genauso gut könnte man sagen, daß die Augen eines in der Kosmetikindustrie gefolterten Kaninchens beweisen, daß es Haarwaschmittel als "Rot" erkennt [Ironie]... Die Schlagzeile "Synthetische Chemikalie lockt Spermien zur Eizelle" hätte aus dem Buch ja wohl kaum einen populärwissenschaftlichen Erfolg gemacht.
Das ist nicht die einzige Ungenauigkeit in Prof. Hatts Buch. Chanel No. 5 ist kein "synthetischer Duft" sondern enthält neben Naturstoffen wie Jasmin auch äußerst geringe Mengen synthetischer Aldehyde (C-10, C-11 und C-12). Das erste Parfüm, das synthetische Stoffe enthielt, war auch nicht Chanel No. 5, sondern ein Herren-Duft: "Fougère Royal" von Paul Parquet (Firma Houbigant) - bereits 39 Jahre vorher auf den Markt gebracht. Wiederum schlecht recherchiert. (Die Antwort auf die Frage, was das erste rein synthetische Parfüm war, würde mich übrigens sehr interessieren.)
Im Weiteren versagt das "Maiglöckchenphänomen" an einer zentralen Stelle: wenn es erklärt, wie das Riechen funktioniert. Der Autor erliegt der Versuchung, sich von seinen Forschungen auf diesem Gebiet davontragen zu lassen und die "anderen Strömungen" wie auch eigene (und offensichtlich mühselige) Forschungsergebnisse zu ignorieren: "Bis heute, zehn Jahre später, sind außer OR17-40 und OR17-4- nur zwei weitere menschliche Rezeptoren erforscht, alle anderen 346 gilt es erst zu entschlüsseln. Viel Arbeit, noch mehr Kosten, aber wir finden: Es lohnt sich.", so Hatt. Sicher lohnt sich das vor allem für den Geruchsforscher selbst (und folgende Forschergenerationen!), wenn es rechnerisch noch weitere 865 Jahre dauert, um die "fehlenden" Rezeptoren zu entschlüsseln. Ein Schelm, der Arges dabei denkt.
Dabei soll natürlich nicht die Existenz von 350 Rezeptoren angezweifelt werden, sondern nur die Erklärung, wie diese Rezeptoren Düfte erkennen können: "Jeder Rezeptor ... reagiert auf eine bestimmte molekulare Teilstruktur, die zwingend vorhanden sein muss.", läßt uns Hatt wissen. Das ist lediglich eine Vermutung und wissenschaftlich keinesfalls bewiesen. Es lassen sich (siehe Luca Turin "The Secret of Scent") viele Gegenbeispiele finden, wo gleiche Geruchsempfindungen durch gänzlich unterschiedliche Molekülstrukturen ausgelöst werden. Turin ist es auch, der eine andere, und leichter nachvollziehbare Theorie aufstellt: nicht die Form der Moleküle macht laut Turin den Geruch ("Shape Theory") sondern die Molekül-Vibration ("Vibration Theory") ist dafür verantwortlich. Turin beschreibt die 350 Rezeptoren ähnlich den inneren Haarzellen in der Cochlea (Hörschnecke): jeder Rezeptor ist auf eine bestimmte Molekülfrequenz spezialisiert. Wir riechen ähnlich wie wir hören und sehen: basierend auf Vibrationen. Molekülfrequenzen können mit Turins Methode zudem genau berechnet und vorhergesagt werden. Es ist ihm und seiner Firma Flexitral auf dieser Basis gelungen, eine Reihe von Riechstoffen am Computer zu entwerfen und herzustellen - ein schlagender Beweis für die Richtigkeit seiner "Vibrations"-Theorie! Prof. Hanns Hatt hätte diese andere Strömung/Theorie zumindest erwähnen können. Insider wissen: der Streit sitzt tief. Ein "Richard-Axel-Jünger" wie Hatt darf den Namen "Turin" nicht in den Mund nehmen.
Das Buch ist kein Parfüm-Buch, auch wenn es die Namen einiger Riechstoffe und Anekdoten zu berühmten Duftkompositionen enthält und üppige Anleihen bei Süskind's Meisterwerk "Das Parfum" nimmt. Im Wesentlichen geht es im "Maiglöckchenphänomen" um Sexuallockstoffe / Pheromone bei Mensch und Tier. Das thematisch mit Parfüm zu mischen, verwirrt den Leser nur: eine Duftkomposition mit Pheromonen zu vergleichen ist, als würde man Glutamat und Ecstasy in einen Topf werfen, weil beide oral verabreicht werden. Um es klar zu sagen: Marketingfachleute in aller Welt möchten uns nur zu gern glauben machen, eine gute Duftkomposition könnte ähnliche Wirkungen entwickeln, wie Pheromone - nur leider ist das Unsinn und wird ein Wunschtraum bleiben - es sei denn, man setzt direkt Pheromone ein - die dann aber nicht besonders "gut" riechen, was Hatt sogar zugibt. Es ist ein fundamentaler Unterschied ob mir jemand unangenehm ist, weil er das falsche Eau de Cologne benutzt oder weil seine Pheromone mir (unbewußt) inkompatibel und daher "meidenswert" erscheinen. Ersteres "rieche" ich bewußt, letzteres läuft ganz unbewußt ab, ist aber hundertfach effektiver. Nur mit "Duft" im Sinne von Parfüm hat das nicht zu tun. Süskind mochte man diese Unschärfe gerne verzeihen, sein Roman war reine Fiktion. Hatt erhebt einen wissenschaftlichen Anspruch, läßt jedoch die erforderliche Systematik vermissen.
Es gibt auch positives über das " Maiglöckchenphänomen" zu sagen. Hatt macht uns darauf aufmerksam, daß olfaktorische Wahrnehmungen, ob nun bewußt oder unbewußt rezipiert, an vielen Stellen unser Leben bestimmen. Er schreibt in angenehmem, leicht lesbarem Stil und streut viele unterhaltsame und interessante Anekdoten und Informationen ein.
Es nervt nur, wenn ganz im Stile eines Erich von Däniken die zuvor beschriebenen wilden Parallelen konstruiert werden, die dem mäßig interessierten Leser ein "Pseudo-Wissen" suggerieren, daß er dann auf Partys mit Verweis auf die vermeintliche Autorität Hanns Hatt im vollen Brustton seiner Überzeugung von sich gibt. Deshalb nur zwei Sterne.
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Gebundene Ausgabe
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Taschenbuchausgabe
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