Ein Bericht in der Berliner Morgenpost
1.Aug. 2005
Leserbriefe sind möglich: http://morgenpost.berlin1.de/misc/leserbriefe/
Krank durch Chemie
Menschen mit "MCS" reagieren auf kleinste Mengen zahlreicher Substanzen - Ursachen unklar
Von Frank Leth
Gießen - Bereits beim Aufschlagen der Zeitung oder beim täglichen Einkauf bleibt ihnen schlicht die Luft weg: Menschen mit einer so genannten Multiplen Chemikalienunverträglichkeit (MCS) reagieren auf Umwelteinflüsse ungewöhnlich heftig. "Die Patienten führen ihre Beschwerden auf Chemikalien in der Umwelt zurück, die dort in geringsten Mengen vorhanden sind", sagt Caroline Herr, Leiterin der umweltmedizinischen Ambulanz der Universität Gießen.
"Ein Teil der Menschen mit MCS reagiert sogar auf Lösungsmittel in Zeitschriften", berichtet Heinz Guth von der Deutschen Gesellschaft Multiple Chemical Sensitivity, einem bundesweiten Patientenverband. Auslöser der Beschwerden können auch Duftöle, Desinfektionsmittel oder Medikamente sein.
Atemnot, Kopf- und Gliederschmerzen, Benommenheit oder Schwindel sind mögliche Folgen. Die meisten Symptome sind unspezifische und vielfältig. Sie beeinträchtigen die Lebensqualität der Betroffenen aber häufig so stark, daß sie arbeitsunfähig werden und sich sozial isolieren.
MCS ist dabei keineswegs eine neuartige Erkrankung. Erstmals wurde das Syndrom kurz nach dem Zweiten Weltkrieg beschrieben. Doch die Medizin hat mit MCS ein Problem. "Es ist keine Krankheit im klassischen Sinne, sondern eher ein umweltbezogener Symptomenkomplex", sagt Caroline Herr. Die Ursachen seien noch ungeklärt. Einige Forscher gehen aber davon aus, daß es MCS gar nicht gibt und die Symptome psychisch bedingt seien.
Zu diesem Ergebnis kommt auch die Umweltambulanz der TU München: Mitarbeiter untersuchten 308 Patienten mit umweltassoziierten Erkrankungen sowie 59 Arbeiter aus der Halbleiter-Industrie. Psychische Erkrankungen waren bei den Patienten deutlich häufiger als bei den Arbeitern: 47 Prozent der Patienten hatten psychosomatische Störungen, bei den Arbeitern waren es nur 8,5 Prozent. Auch Zwangs-Störungen waren bei den Patienten doppelt so häufig, unter Depressionen oder Manie litten ebenfalls 19 Prozent im Gegensatz zu 3,5 Prozent bei den Arbeitern. Einen Zusammenhang zwischen der Exposition von Chemikalien und Beschwerden konnte hingegen nicht festgestellt werden.
"Die Krankheit ist nicht eingebildet", sagt dagegen Guth. Eine Beteiligung der Psyche sei auch bei organisch bedingten Erkrankungen bekannt und im Fall von MCS-Patienten eine Folge des jahrelangen Leidens. Die Ursache der MCS seien chronische Entzündungen der Blutgefäße des Gehirns sowie Schädigungen des Hirnstamms und der Nervenzellen. Und dies wiederum sei auf eine Exposition von Chemikalien zurückzuführen.
Die Medizinerin Herr schränkt aber ein: "Derzeit ist MCS nicht meßbar." Noch bestimmen Ärzte die Erkrankung im Ausschlußverfahren. So werde etwa geprüft, ob Allergien oder Migräne vorliegen.
"Sicher ist, daß die Patienten stark leiden", betont Herr. Viele Ärzte reagierten auf die Beschwerden ratlos. Folge sei ein regelrechtes "Doctor-Hopping": Die Patienten suchten immer wieder Rat bei anderen Medizinern. Da MCS nicht klar abgegrenzt werden könne, sei auch die Therapie schwierig: Derzeit beschränke sie sich auf die Behandlung der Symptome und Psychotherapie.