Der Einfluss von Gefährdungskognitionen, Arousal und Aufmerksamkeit auf den Symptombericht: Ergebnisse einer Studie zur Entwicklung amalgambezogener Beschwerden.
Dissertation der Fakultät für Informations- und Kognitionswissenschaften der Eberhard-Karls-Universität Tübingen
vorgelegt von Dipl.-Psych. Anton Rudolf
Tag der mündlichen Qualifikation: 14.07.2004
Dekan: Prof. Dr. Ulrich Güntzer
1. Berichterstatter: Prof. Dr. Martin Hautzinger
2. Berichterstatter: PD Dr. Josef Bailer (Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim)
Tübingen 2004
Seite 68
"Amalgamsensitive bewerteten verschiedene Gefahrenstoffe in der Umwelt als wesentlich bedrohlicher für die eigene Gesundheit als die Kontrollgruppe. Sie erzielten im Umwelt-fragebogen signifikant höhere Werte (s. Tabelle 16). Dies fand sich tendenziell auch bei den Einzelitems des Fragebogens, mit Ausnahme der Bewertung der radioaktiven Strah-lung. Besonders ausgeprägt waren die Unterschiede in der Bewertung der Gefährdung durch "Zahnfüllungen aus Palladium", "Schadstoffe in der Luft" sowie "Schadstoffe in der Nahrung". Bei diesen Items fanden sich jeweils hochsignifikante Unterschiede zwischen den beiden Gruppen."
Seite 100
"Amalgamsensitive wiesen deutlich ausgeprägtere umweltbezogene Gefährdungs-kognitionen auf. Sie fühlten sich nicht nur durch Dentalmaterialen, sondern auch durch ein Reihe von ständig in der Umwelt vorhandener Stoffe und Materialien (Luft, Wasser, Nahrung, Passiv-Rauchen, Elektro-Smog) in ihrer Gesundheit bedroht. Bailer et al. (2000) gehen deswegen davon aus, dass es sich bei der Amalgamsensitivität um keine spezifische Befürchtung handelt, sondern um einen Aspekt einer allgemeinen Umweltsensitivität. Gottwald et al. (2002) finden bei den von ihnen untersuchten Amalgampatienten einen spezifischen Coping-Stil auf die Konfrontation mit bedrohlichen Umweltreizen: Die Patienten zeigen eine erhöhte Aufmerksamkeit und eine intensive Beschäftigung mit dem bedrohlichen Objekt, was gleichzeitig mit einer selektiven Informationsbeschaffung einher geht. Nimmt man beide Befunde zusammen, so führt die wahrgenommene Bedrohung durch Umweltmaterialien zu einer vermehrten Zuwendung zu diesen Stoffen und einer vermehrten Beschäftigung mit deren Auswirkungen, ohne dass dadurch eine Verminderung der Bedrohung erreicht werden kann. Bestätigend fand sich dazu in unserer Untersuchung im Amalgam-Interview,"
Seite 107
"THEORETISCHER HINTERGRUND: Amalgamassoziierte Störungen sorgten in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts für heftige Diskussionen in der gesundheits-orientierten Öffentlichkeit. Eine erhebliche Zahl von Betroffenen meldete sich zu Wort und führte eine Reihe von körperlichen und psychischen Beschwerden auf die Wirkung von freigesetztem Quecksilber aus amalgamhaltigen Zahnfüllungen zurück. Die wissen-schaftliche Befundlage lieferte dagegen insgesamt nur wenig Unterstützung für diese Annahme. Auf der Basis der vorliegenden empirischen Befunde erstellten Bailer et al. (2000) ein Erklärungsmodell zur Entstehung dentalmaterialbezogener somatoformer Störungen. Dieses Modell lehnt sich an entsprechende Modelle somatoformer Störungen an. Es erklärt die Entstehung und Aufrechterhaltung der Beschwerden auf der Basis psychologischer Mechanismen, insbesondere einer individuell erhöhten psychischen Vulnerabilität sowie eines somatoformen Aufschaukelungsprozesses in Form eines Teufelskreises.
FRAGESTELLUNG: Überprüft werden Hypothesen, die sich aus dem postulierten Erklä-rungsmodell ableiten lassen. Wie und in welchem Ausmaß unterscheiden sich amalgam-sensitive Probandinnen in ihrer Befindlichkeit, in der Quecksilberbelastung und in ihrer Vulnerabilität von der Kontrollgruppe? Unterscheiden sich die beiden Gruppen in der Be-wertung von körperlichem Arousal?
METHODE: Mittels eines Screening-Fragebogens wurden Probandinnen identifziert, die der Überzeugung waren, dass ihre Gesundheit durch Quecksilber aus Amalgamfüllungen bereits erheblich geschädigt sei (Amalgamsensitive, N =40) Diese wurden im Rahmen einer Kontrollgruppenuntersuchung mit einer Gruppe von amalgamindifferenten Proban-dinnen verglichen (N =43). Alle Probandinnen wurden einer zahnmedizinischen, einer arbeitsmedizinischen einschließlich einer toxikologischen sowie einer psychologischen Untersuchung unterzogen. Die Verarbeitung von körperlichem Arousal wurde mittels einer experimentalpsychologischen Anordnung untersucht.
ERGEBNISSE: Amalgamsensitive Probandinnen wiesen eine ausgeprägte Befindlich-keitsstörung auf, sie unterschieden sich dabei deutlich von den Probandinnen der Kontrollgruppe. Dabei fanden sich vor allem erhöhte Werte im Bereich unerklärter körperlicher Symptome (SOMS-Fragebogen und SCL-90R-Skala Somatisierung). Dies spiegelte sich auch in einer erhöhten Zahl an Diagnosen somatoformer Störungen wider. Kein signifikanter Unterschied fand sich in den untersuchten Parametern der Queck-silberbelastung im Speichel, im Blut und im Urin.
Ein substantieller Teil der Unterschiede in der Befindlichkeit ließ sich regressionsana-lytisch durch die Vulnerabiltitätsfaktoren erklären, wobei insbesondere Trait-Ängstlichkeit
und Kognitionen zur körperlichen Schwäche (FKG-Fragebogen) eine zentrale Rolle spielten.
Bei der Untersuchung zur Bewertung von körperlichem Arousal fand sich bei den amalgamsensitiven Probandinnen eine signifikant ausgeprägtere Einschätzung der kör-perlichen und emotionalen Auswirkungen des induzierten Arousals. Weitere differentielle Effekte ließen sich nicht nachweisen.
SCHLUSSFOLGERUNG: Die Ergebnisse der Studie legen eine psychologische Verur-sachung der beklagten Beschwerden nahe. Es fanden sich keine Hinweise, die eine toxi-kologische Ätiologie der Beschwerden belegen.
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